Heft 
(1892) 70
Seite
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Frau Jenny Treidel.

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Wohl oder übel. Der quälende Druck der letzten Tage machte, daß er vor dem, was er vorhatte, nicht mehr so geängstigt stand, wie früher; er mußte sich eben Ruhe schaffen. Ein paar Mal schon war er nahe daran gewesen, eine wenigstens auf sein Ziel überleitende Frage zu thun; wenn er dann aber der Gestalt seiner stattlich vor ihm dahinschreitenden Mutter ansichtig wurde, gab er's wieder auf, so daß er schließlich den Vorschlag machte, eine gerade vor ihnen liegende Waldlichtung in schräger Linie zu passiren, damit sie, statt immer zn folgen, auch 'mal an die Tste kämen. Er wußte zwar, daß er in Folge dieses Manövers, den Blick der Mama vom Rücken oder von der Seite her haben würde, aber etwas auf den Vogel Strauß hin angelegt, fand er doch eine Be­ruhigung in dem Gefühl, die seinen Muth beständig lähmende Mama nicht immer gerade vor Augen haben zu müssen. Er konnte sich über diesen eigenthüm- lichen Nervenzustand keine rechte Rechenschaft geben und entschied sich einfach für das, was ihm von zwei Uebeln als das kleinere erschien.

Die Benutzung der Schräglinie war geglückt, sie waren jetzt um ebenso viel voraus, als sie vorher zurück gewesen waren, und ein Gleichgültigkeitsgespräch fallen lassend, das sich, ziemlich gezwungen, um die Spargelbeete von Halensee sammt ihrer Cultur und ihrer sanitären Bedeutung gedreht hatte, nahm Leopold einen plötzlichen Anlauf und sagte:Wissen Sie, Corinna, daß ich Grüße für Sie habe?"

Von wem?"

Rathen Sie."

Nun, sagen wir von Mr. Nelson."

Aber das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, das ist ja wie Hellseherei; nun können Sie auch noch Briefe lesen, von denen Sie nicht einmal wissen, daß sie geschrieben wurden."

Ja, Leopold, dabei könnt' ich Sie nun belassen und mich vor Ihnen als Seherin etabliren. Aber ich werde mich hüten. Denn vor Allem, was so mystisch und hypnotisch und geisterseherig ist, haben gesunde Menschen bloß ein Grauen. Und ein Grauen einzuflößen, ist nicht das, was ich liebe. Mir ist es lieber, daß mir die Herzen guter Menschen zufallen."

Ach, Corinna, das brauchen Sie sich doch nicht erst zu wünschen. Ich kann mir keinen Menschen denken, dessen Herz Ihnen nicht zufiele. Sie sollten nur lesen, was Mr. Nelson über Sie geschrieben hat; mit amusinA sängt er an, und dann kommt etmrininZ und tuZU - sxiritsä, und mit taseinatinZ schließt er ab. Und dann erst kommen die Grüße, die sich, nach Allem, was vorauf­gegangen, beinahe nüchtern und alltäglich ausnehmen. Aber wie wußten Sie, daß die Grüße von Mr. Nelson kämen?"

Ein leichteres Räthsel ist mir nicht bald vorgekommen. Ihr Papa theilte mit. Sie kämen erst später, weil Sie nach Liverpool zu schreiben hätten. Nun, Liverpool heißt Mr. Nelson. Und hat man erst Mr. Nelson, so gibt sich das Andere von selbst. Ich glaube, daß es mit aller Hellseherei ganz ähnlich liegt. Und sehen Sie, Leopold, mit derselben Leichtigkeit, mit der ich in Mr. Nelson's Brief gelesen habe, mit derselben Sicherheit lese ich zum Beispiel Ihre Zukunft."

Deutsche Rundschau. XVIII, 6. 22