Architektur und Plastik.
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Wie sehr dies der Baukunst gelingt, wissen wir Alle aus eigener Empfindung; denn wenn es daraus ankäme, Jemanden den vollen Eindruck von dem, was das Wesen der Antike im Gegensatz zur mittelalterlichen Kunstwelt ist, in kräftigster Weise auf einmal empfinden zu lassen, so könnten wir nichts Besseres thun, als ihn aus dem Gewölbe eines Doms vor die Säulen des Parthenon zu führen. Doch sind es nur allgemeine Stimmungen, die hier empfunden werden; es sind gewisse Grundtöne des geistigen Lebens. Der ganze Aufbau steht uns, nach mathematischen Gesetzen gegründet und gegliedert, in seinen körperlichen Verhältnissen wie ein Aeußerliches gegenüber. Der starren Form Wärme und Mannigfaltigkeit zu geben, und in jene Grundaccorde melodische Weisen einzuflechten, welche das Gemüth vertraulicher ansprechen, werden figürliche Darstellungen, Gestalten, welche im religiösen Glauben oder in volksthümlicher Dichtung wurzeln, angewendet. So werden in dem strengen Gliederbau einzelne Theile ausgezeichnet; das Einförmige wird unterbrochen, jede Leere gefüllt, Phantasie und Gefühl angeregt.
Wie dieser Zug mit einer gewissen Nothwendigkeit durch Jahrtausende hindurch geht, so lange wir bauende und bildende Völker kennen, zeigt ein Blick in die einander fremdesten Culturperioden, das orientalische Alterthum und das christliche Mittelalter.
Doppelreihen heiliger Thiere führen vom Nil zu den Tempeln Aegyptens. Ihre Pforten und Wände sind mit Relief bedeckt; die Standbilder anbetender Könige lassen uns die Heiligkeit des Platzes empfinden. In den assyrischen Palästen wurdm alle Säle zu geschichtlichen Denkmälern, indem die Thaten der Erbauer in Krieg und Frieden die breiten Wandflächen füllten. Die europäische Denkmälerkunde beginnt mit dem Löwenrelies, das in vornehnem Wappenstil das Burgthor der Atriden schmückt.
Bei den christlichen Kirchen war es das Streben nach Ausstattung der Portale, das in vorzüglichem Grade die beiden Künste verband. Erst Malerei, dann Sculptur wurde, dem Raum entsprechend, angewendet, um den Herantretenden religiös zu stimmen und ihn über die Bedeutung des Gebäudes zu orientiren. Es war, wie Violet le Duc sich ausdrückt, 1a xräkaee äu monunmnt. Statuarisch über dem Eingänge sieht man den Inhaber des Gotteshauses stehen, die Himmelskönigin, den Täufer oder einen der Heiligen. In dem darüber sich öffnenden Bogenraum konnte man Zusammenhängendes zur Darstellung bringen, biblische Geschichten oder Bilder, die den der Kirche Nahenden zu ernster Einkehr mahnten, wie das Weltgericht.
Der Spitzbogen war zur Aufnahme der Plastik weniger geeignet, und je reichlicher die Gedanken zuströmten, welche am Eingänge das Gemüth erbauen und den Zusammenhang der göttlichen Offenbarung erkennen lassen sollten, um so mehr wurde die Fülle, in der man sich erging, zu einem Uebermaße; die Statuetten von Propheten und Heiligen schoben sich über einander in die Hohlkehlen der Vogen ein; die Bildkunst kam nicht zu ihrem Rechte.
Nur einem Volke ist es gelungen, durch eine Folge von Versuchen und Entwicklungsstufen Architektur und Plastik in vollkommener Weise mit einander zu verbinden; das sind die Hellenen, und darum ist die Geschichte ihrer Tempel-