Heft 
(1892) 70
Seite
350
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350 Deutsche Rundschau.

Plastik für alle Zeit das unerschöpfliche Lehrbuch der Verbindung von Plastik und Architektur.

In weiterem Sinne gehört zur Tempelplastik, was die Tempelwege mit Denkmälern begleitet, was den Tempelraum mit figurenreichen Schranken einhegt oder die Gebäude mit tragenden Gestalten schmückt; im engeren Sinne, was in die Architektur des Ganzen ausgenommen ist. Auch diese eingeglie­derten Bildwerke, welche die attische Kunst zuerst harmonisch zu verbinden wußte, sind verschiedener Art. Metopen und Fries haben immer den Cha­rakter einer gelegentlichen Ausstattung, einer Decoration behalten, die an verschiedenen Plätzen, mehr oder minder vollständig, in Farbe oder Relief ausgesührt werden konnte. Das Wesentliche und Unentbehrliche war des Giebels plastische Ausstattung, und hier erkennen wir am deutlichsten, wie Alles allmälig geworden ist und die genialsten Schöpfungen aus materiellen Raumbedingungen erwachsen sind. Denn die Construction des Regendachs war das Maßgebende; es wurde durch die Bürger von Korinth so umgestaltet, daß es anstatt eines nach vier Seiten abfallenden Walmdachs in Ost und West einen dreieckigen Giebel bildete. Dadurch ergab sich ein hoher, weit sichtbarer Raum, der nicht leer bleiben durfte; das Gotteshaus erhielt eine Front, an der man zuerst ein be­scheidenes Relief anbrachte, ein Symbol, um wie mit einer Hausmarke den Eigen­tümer zu bezeichnen. Ein Adler, ein Bogen, eine Mondscheibe waren solche plastische Epigramme.

Als die Tempel stattlicher, die Giebel breiter und höher wurden, reizte es den erfinderischen Sinn, aus dem engsten Kreise solcher Wappenbilder hinaus­zugehen. Mythische Wesen, halb Mensch, halb Thier, füllten am besten die unbequemen Ecken, während in der Mitte des Dreiecks Göttergestalten empor­stiegen. Die Zusammenstellung verschiedener Figuren führte zu dramatischer Gruppirung. Lebhaft bewegte Gruppen verlangten kräftige Licht- und Schatten­wirkung. Man gab das Relief aus; die Gestalten wurden von der Rückwand gelöst, so daß sie, vom vorspringenden Rande des Tempeldaches sicher eingefaßt, weithin wirkungsvoll vortraten. Nun entfalteten sich innerhalb des gleichschenkligen Dreiecks ganze Reihen plastischer Motive. Zunächst blieb die Mittelfigur das Centrum, auf welches Alles bezogen wurde, entweder der Gegenstand friedlicher Huldigung oder auch die Mitte eines bewegten Gegensatzes; denn die gleichen Flügel rechts und links waren vorzüglich geeignet, zwei Parteien, sowohl im Wettkampfe als auch im blutigen Streit, einander gegenüber zu stellen. So scheidet Athena die Feld­schlacht am Tempel der Aegineten, so Zeus die Parteien im Ostgiebel von Olympia, beide in feierlich senkrechter Haltung.

Eine neue Idee der Anordnung ging von Phidias aus. Er wagte es, die bewegteste Gruppe in die Mitte zu stellen. Dadurch hatte er den großen Vor­theil, seitwärts, wo die Giebelform keine emporgerichteten Stellungen duldet, ruhende Gestalten sich lagern zu lassen, während für den Hauptvorgang die hohe Mitte gewonnen wurde. Während also früher die Bewegung mit steigender Wellenhöhe sich von beiden Seiten gegen den ruhigen Mittelpunkt vorschob, ging jetzt vom Centrum die Bewegung aus, welche sich nach den Flügeln hin be­ruhigte, wie ein vollrauschender Accord allmälig austönt.