Heft 
(1892) 70
Seite
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Architektur und Plastik.

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Damit hing eine andere Aenderung unmittelbar zusammen. An Stelle der Einzelfigur, welche wie die Zunge der Wagschale den Mittelpunkt bezeichnte und den überweltlichen Wesen Vorbehalten war, traten zwei Gottheiten ein, die als Paar das Centrum bildeten. Dadurch ward es möglich, statt Heroengeschichte Göttergeschichte darzustellen und die wichtigsten Dogmen der Landesreligion an den Fronten der Tempel in kolossalen Marmorbildern zur Anschauung zu bringen, einerseits Athena, die neugeborene, vollgereifte im Waffenschmuck dem Vater Zeus gegenüber, andererseits die in Wohlthaten für das Land wetteifernden Burg­götter, Athena und Poseidon. Bei aller Entsprechung blieb zwischen beiden Fronten ein feiner Unterschied. Der Osten behauptete den Vorrang, indem er die Olympier im Olymp darstellte, und dann gab man ihm dadurch einen eigen­tümlichen Charakter, daß man hier feierlicheren und ruhigeren Darstellungen den Vorzug gab, wie uns dies in Olympia am deutlichsten entgegentritt. Am Parthenon wird im Westgiebel nicht der Conflict selbst dargestellt, sondern die friedliche Lösung, indem Poseidon die Ueberlegenheit seiner Nebenbuhlerin aner­kennt und nur in gemeinsamer Segnung der geliebten Stadt mit Athena wett­eifern will. Im Parthenon erkennen wir die höchste Verklärung dessen, was in monumentaler Tempelplastik die Alten geleistet haben; die Kampfmotive, welche auf den früheren Stufen vorwalteten, sind vor einer höheren Auffassung zurückgetreten, die großartigste und schwierigste Aufgabe religiöser Plastik ist in unübertrefflicher Weise gelöst ; der räumliche Zwang ist mit idealer Freiheit, Würde mit Anmuth, Ruhe mit Bewegung in wohlthuender Harmonie vereinigt.

Wenn wir der Entwicklung einer so eigenartigen Kunstgattung aufmerksam folgen, so empfinden wir erst in vollem Maße, wie viel Dank wir unserm glor­reichen Kaiser Wilhelm I. und Seinem unvergeßlichen Sohne schulden, deren persönliches, hochherziges und energisches Eintreten für ein großes Friedenswerk den heiligen Boden der Altis geöffnet hat, aus dem durch ein wunderbares Glück zwei Tempelgiebelgruppen in fast vollständigen Statuenreihen emporstiegen, zwei im Alterthum hochberühmte Schöpfungen namhafter Künstler, die unmittel­baren Vorgänger des Parthenon, welche wir hier in unserer nordischen Haupt­stadt wieder aufbauen durften. Das ist eine Epoche für die Kunstwissenschaft geworden, und der Lichtblick, welcher die Geschichte der Tempelplastik erleuchtete, ist um so wichtiger, weil die im Parthenon zur Vollendung entfaltete Kunst bald im Rückgänge war; der feste Zusammenhang zwischen Architektur und Plastik, auf dem die monumentale Kunst des perikleischen Athens ruhte, lockerte sich sehr bald, als die durch Parteien zerrüttete und nicht mehr von hervorragenden Gei­stern geleitete Stadt außer Stande war, großartige Bauwerke ins Leben zu rufen. Die jüngere Kunst wendete sich mit Vorliebe der Aufgabe zu, in Einzel­statuen von Marmor und Erz die vollendete Meisterschaft darzustellen. Praxiteles machte den Thebanern einen Tempelgiebel, in welchem elf Heraklesthaten an ein­ander gereiht waren. Das war schon eine Auslösung des einheitlich gedachten Giebelbildes der alten Hellenen.

Der Rückgang der hohen Kunst offenbarte sich auf verschiedene Weise. Zuerst in der Technik, in der man zum Relief zurückkehrte, weil Vermögen und Lust zu plastischer Gestaltung erloschen war; gewohnheitsmäßig begnügte man sich,