Heft 
(1892) 70
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Deutsche Rundschau.

nischen Formen über einfache Zellenbildung nicht oder wenig hinausgingen, so sah die Folgezeit Pflanzen und Thiere höherer Art austreten, und hat die Mensch­heit sich selbst aus kleinen Anfängen zu einer reichen Gestaltenfülle entwickelt Die Organismen sind nach Art und Zahl gewachsen.

Das ist möglich, weil wir in der Innenwelt behalten, was wir einmal er­fahren oder in uns hervorgebildet haben, wie wir es auch äußern und damit wirken mögen; das Neue verdrängt das Alte nicht, sondern schließt sich ihm an; das Alte entwickelt sich, bereichert sich durch neue Eindrücke und Leistungen, und nicht bloß eine größere Fülle des Mannigfaltigen, auch eine größere Kraft des Einheitlichen, des Wesenkernes selbst, wird gewonnen; wir werden zu tieferen Ideen, zu edleren Thaten befähigt. So im Einzelnen wie im Ganzen der Mensch­heit. Die Hülflosigkeit, die Abhängigkeit von der Natur wird in die Herrschaft über die Natur verwandelt, die Intelligenz macht deren Stoff und Kräfte unseren Zwecken dienstbar. Wir theilen unsere Kenntnisse, unsere Ideen einem Anderen mit, aber wir verlieren sie dadurch nicht, daß sie nun auch dem Andern zu eigen werden, im Andern fortwirken; vielmehr haben wir bei dem Ausgeben unseres Reichthums noch gewonnen, indem wir ihn durch das Aussprechen uns selbst zu größerer Klarheit brachten.

Dies Behalten im Innern hat Platon zuerst naturalistisch erklärt, indem er den Abdruck eines Siegels im Wachs heranzog; so stützte auch Cartesius das Gedächtniß auf Spuren der Eindrücke, die im Gehirn bleiben. Wenn Physio­logen des vorigen Jahrhunderts darnach ganze Milliarden von Gehirnspuren berechneten, so wies Albrecht von Haller darauf hin, daß nicht bloß Sinnes­eindrücke, sondern auch Vorstellungen und Worte solche Furchen ziehen müßten, und da die Elemente des Gehirns in beständigem Wechsel begriffen sind, so müssen die ausscheidenden Atome auch das Vermögen besitzen, ihre Eindrücke den neu eintretenden zu überliefern. Indes wie die in Stein gehauenen Schriftzüge dauern, wie am Greis noch die Narbe aus der Kindheit sichtbar ist, so legte man Wohl der Materie ein Vermögen des Behaltens bei, und setzte das Gedächt­niß von einer Function des bewußten Lebens zu einer solchen des unbewußten herab; denn was heute bewußt war und übermorgen erinnert wird, das hat doch unbewußt sortbestanden. Dagegen bemerkte nun Johannes Huber: das Ge­dächtniß bestehe vorzugsweise in der Wiedererzeugung früherer Wahrnehmungen oder Vorstellungen, und diese Reproduction sei nicht Sache der Materie; und wenn diese auch Eindrücke bewahre, so könne doch nur unsere bewußte Thätigkeit sie sich wieder zum Bewußtsein bringen. In der That: der lebendige Spiegel muß da sein, in welchem sie wieder erscheinen, die fühlende, denkende Innerlich­keit, welche die Eindrücke der Außenwelt erst in Empfindungen auslöst, und ebenso die Gehirnspuren wieder zu Vorstellungen macht. Und hier kommt die Schwierigkeit des Vergessend. Denn die Farben und Töne dauern in unserer Empfindung, so lange die Schwingungen des Aethers und der Lust Augen und Ohren treffen; aber müßten uns die Gehirnspuren, wenn sie das Gedächtniß be­dingen, nicht immer vor unserem Bewußtsein stehen?

Ein Spiel von Vorstellungen, das sich absichtslos in uns vollzieht, dem wir bloß zuschauen, mag durch Umstimmungen in den Ganglienzellen des Gehirns