Heft 
(1892) 70
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Deutsche Rundschau.

der Außenwelt für sich. Die Anpassung an neue Bedingungen und Verhältnisse im Wettbewerb um die Güter der Welt setzt die lebendige Kraft voraus, die sie vollbringt.

Eine nothwendige Bedingung für die steigende Energie in der aussteigenden Entwicklung der Organismen ist die Vererbung. Aber sie erscheint mir selbst als ein ungeheures Problem, das man nicht ohne Weiteres zur Lösung von Problemen verwenden darf. Denn wenn nach gewöhnlicher Ansicht unser Orga­nismus ein Haufwerk von Atomen ist, die in ihrem Zusammenwirken unser Selbstgefühl bedingen sollen, und nicht von einer Organisationskraft geordnet und bestimmt sind, welche in ihnen zu sich selbst kommt, so frage ich: Wie geschieht es, daß zwei einzelne Zellen aus den elterlichen Körpern sich ablösen und ver­binden und in langem und unablässigem Stoffwechsel Wieder Milliarden von Atomen an sich heranziehen und wieder abscheiden, und daß wenn wahrscheinlich die ersten Atome längst ausgetreten sind, nicht bloß leibliche Gesichtszüge, sondern auch gemüthliche Anlagen der Eltern wieder zu Tage kommen? Daß hier ein Dauerndes in diesem Wechsel sein muß, haben geistvolle Naturforscher wie Nägeli und Weismann bedacht, und eine Gerüstsubstanz oder ein Keimplasma an­genommen, das von den Eltern aus die Kinder übergeht, und man glaubt im Zellenkern solches zu finden. Damit sind wir bei einem Träger der Organisations­kraft angelangt, und der Schritt zu dieser selbst liegt nahe.

Im Keimplasma selbst sind es nicht die Stoffe, sondern es ist die Anordnung seiner Elemente, die von einer Zelle auf die andere übergeht, und das führt uns zur Ursache der Anordnung, zum Organisationsprincip: nicht die Menge beständig wechselnder Stoffelemente, sondern die bleibende, sie verbindende Wesenheit ist es, die einem in ihren Machtbereich gekommenen Lebenskeime den Stempel ihres Gattungstypus und ihrer Individualität aufdrückt, ihn im Getriebe der eignen Physiologisch-Psychischen Processe reisen läßt, sodaß er Anlagen, Formen, Richtungen von ihr empfängt, die er nun eigentümlich weiterbildet. Denn es ist immer eine frische, originale Triebkraft, die sich nun entfaltet, und in der elterlichen Mitgift sowohl Förderungen wie Erschwerungen empfangen kann, mit denen sie zu rechnen hat. Da es dieselbe Seele ist, welche als leibgestaltende Lebenskraft den physischen Organismus bildet, und zugleich im Selbstgefühl und Selbst­bewußtsein den geistigen Organismus aufbaut, so tragen die Kinder leiblich und geistig Züge der Eltern, aber beide Male ist ihnen eigentlich doch nur der Stoff geboten, den sie selber zu formen haben.

Thatsächlich: was haben wir? Uns selbst als empfindende, denkende, wollende Persönlichkeit in und mit einem lebendigen Leibe, dem Organ unsrer Beziehungen zur Außenwelt, und in der Außenwelt lebendige Organismen, die durch ihr Thun sich als geistbeseelte erweisen. Also keinen Dualismus von Leib und Seele, sondern bei aller Mannigfaltigkeit in sich einige Wesen. Zu ihrem Verständniß, zur Erklärung der fortwährenden Wechselwirkung der Innen- und Außenwelt, des Geistigen und Natürlichen reicht das neue Princip doch zu: das reale, als Naturkraft wirkende Organisationsprincip, das zugleich sich selber ersaßt, berührt von den Bewegungen der Außenwelt die Empfindungen in sich erzeugt, die geistige Welt im Bewußtsein ausbildet. Ohne unsre im Wechsel beharrende Wesenheit