Heft 
(1892) 70
Seite
403
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H a t u t l.

Von

Q Friedlaender.

Catull's Buch der Lieder in deutscher Nachbildung. Von Theodor Heyse. Zweite völlig umgearbeitete Auflage aus des Verfassers Nachlasse. Herausgegeben von August Herzog. Berlin, Verlag von Wilhelm Hertz (Besser'sche Buchhandlung). 1889.

I.

Man darf vielleicht behaupten, daß unter hundert unserer Gebildeten, die in den Oden des Horaz Bescheid wissen, kaum einer Catull mehr als dem Namen nach kennt. Jene haben sie auf der Schule gelesen, und nach dem Abiturienten - examen schlagen auch unter denen, die mit dem Brustton der Ueberzeugung von dem unschätzbaren Werth der humanistischen Bildung zu reden lieben, die wenigsten jemals wieder einen antiken Autor auf. Bei gar manchen, die auf ihreelastische Bildung" stolz sind, besteht der ganze aus der antiken Poesie ins Leben hinüber­genommene Erwerb in Reminiscenzen an die Oden des Horaz, deren zahlreiche, augenehm ins Ohr fallende Sentenzen man so oft passend anbringen kann, und durch deren Wohlklang. Rhythmus und glücklich gewählten Ausdruck man sich gern über den Mangel an poetischem Gehalt täuschen läßt. Freilich konnte die seit der Renaissancezeit traditionell gewordene Bewunderung für sie nicht ganz unvermindert fortbestehen. seit durch Goethe die ganze Tiefe, Macht und Fülle der früher so selten vernommenen echten Lyrik des Herzens offenbart worden ist: mit ihr zusammengehalten muß sich auch die beste rhetorische Lyrik jedem, der für wahre Poesie Verständniß besitzt, als tönendes Erz und klingende Schelle erweisen. Doch die ästhetischen Anschauungen der Zeit, die nur Kunstpoesie kannte und anerkannte, üben immer noch ihre Wirkung, sonst könnten die Oden des Horaz in unserem Gymnasialunterricht nicht einen so breiten Raum einnehmen; und daß Catull als Dichter hoch über ihm steht, dürfte auch heute noch nicht allgemein zugestanden werden. Wahre Dichter haben sich über die Unzulänglich­keit des poetischen Vermögens des Horaz Wohl nie getäuscht. Goethe erkannte sein dichterisches Talent nur in Absicht aus technische und Sprachvollkommenheit, d. h. Nachbildung der griechischen Metra und des poetischen Ausdrucks an und

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