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Deutsche Rundschau.
Wie Du's liebst und verstehst, am Halse hangend,
Dir den freundlichen Mund, die Augen küssen?
O ihr glücklichen Menschenkinder alle,
Wer ist glücklicher nun als ich und froher!^)
Eine geradezu leidenschaftliche Liebe und Bewunderung hegte Catull für den obengenannten Dichter Licinius Calvus. Beide versuchten sich einmal in einem poetischen Wettkampf:
Machten Verselein einer um den andern,
Bald in diesem Gesetz und bald in jenem,
Wechseldichtend zu Wein und Lustgeplauder.
Darauf ging ich hinweg, entbrannt von Deinem Witz, Licinius, Deines Geistes Blitzen,
Daß nicht Speise dem Armen munden wollte,
Noch mit Ruhe der Schlaf die Augen deckte,
Sondern schier wie verrückt im ganzen Bett ich Mich umrüttelte, seufzend nach dem Frühroth.
Doch als endlich erschöpft von aller Arbeit Für halbtodt die Gebein' im Bettchen lagen,
Da, Geliebtester, macht' ich dieses Lied Dir,
Daraus Du mögest erkennen, was ich leides.
Zum Schluß bittet er ihn, seine Liebe nicht zu verschmähen, durch solchen Hochmnth würde er die Göttin der Vergeltung herausfordern.
„Wer sollte ihn nicht lieben, sagt sein Uebersetzer, wenn er ihn recht erkennt, wenn er sich auf Menschen und Zeiten irgend verstehen will? Eine freie Seele, ein warmes, lebendiges Herz, jedem Eindruck aufgethan und ihn rasch mit Ueber- maß erwidernd, selbstlos, grenzenlos an das Nächste hingegeben, als ob Eins Alles wäre, in Liebe und Haß wie unerschöpflich; thöricht, vermessen, aber treu und in allen Schwankungen der Leidenschaft innerlichst sestgehalten an einem Ankergrunde des Gefühls für das Rechte, das die Götter wollen — und nun noch ein solcher Mensch Günstling der Muse, ihr über Alles huldigend, unbedingt vertrauend, in ihrem Namen spielend, kämpfend, frevelnd, durch ihre Kraft die selbstbereiteten Schmerzen beruhigend — wäre denn eine solche Persönlichkeit nicht unserer Theilnahme Werth?"
i) 9.
2s 50, 4—17.