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Deutsche Rundschau.
aufzuweisen hat, das Publicum hat von dieser planlosen Arbeit, weil die Mitwirkung der leitenden Organe gefehlt, in Italien nur wenig Nutzen gehabt. Bedarf es zum Beweise dieser Behauptung mehr als einer Hindeutung aus den Zustand der öffentlichen Galerien in Italien? Keine einzige öffentlich ausgestellte Gemäldesammlung entspricht auch nur im Entferntesten in ihrer Anordnung, in den Bezeichnungen u. dgl. den Anforderungen der Neuzeit; keine einzige hat einen wissenschaftlichen Catalog aufzuweisen. Sie sind stehen geblieben aus dem Standpunkte der Erkenntniß von vor zweihundert Jahren; wie Dornröschen harren sie des Erweckers.
Solche Sammlungen können wohl jedem Empfindenden reichen Genuß, dem Kundigen ungemeine Belehrung gewähren; dem, der an ihnen lernen, an ihnen erzogen werden soll, bieten sie nichts. Nur verwirren kann ihn, den führerlos, ohne die nöthigen Vorkenntnisse Umherirrenden, jene babylonische Formen- und Farbenverwirrung, die noch immer in den italienischen Galerien herrscht, jene willkürliche Verbindung großer Namen mit unbedeutenden Werken.
Nirgends werden diese Uebelstände schmerzlicher empfunden als in Italien selbst, in dem kleinen Kreise der Urtheilssähigen, die seit Jahren mit Aufopferung Kamps führen gegen Unverstand und Mißachtung der Wissenschaft.
Auch der Begabteste bedarf der Belehrung. Ein gründlicher wissenschaftlicher Unterricht ist nicht allein eine große Ersparniß an Zeit und Kraft, er gibt auch das Gefühl der Sicherheit, das erforderlich ist zum selbständigen Urtheil und zur selbstständigen Arbeit. Die archäologische Wissenschaft hat seit Kurzem endlich einen öffentlichen Lehrstuhl erlangt; die Wissenschaft der Kunstgeschichte, die in Deutschland schon bis in die höheren Töchterschulen siegreich vorgedrungen ist, hat in Italien bis jetzt noch keinen öffentlichen Lehrer auszuweisen. Man denke, eine Wissenschaft und kein Professor!
Italien hat vor Allem nöthig, sich auf den Boden der Wissenschaft zu stellen, seine Vorliebe für die „Retorica", für das Vordrängen der eigenen liebenswürdigen Person zu bekämpfen und sich der ernsten, stillen Arbeit zu widmen. Die Erziehung wissenschaftlich und technisch gründlich vorgebildeter Verwalter der Sammlungen und Lehrer der Kunstgeschichte ist die wichtigste und dringendste Aufgabe. Nur durch sie können die Kunstsammlungen wirklich das werden, was sie sein sollten.
Sie sollen umgeschaffen werden zu Stätten reinen, ungetrübten künstlerischen Genusses für den Laien, zu praktischen Lehranstalten für die Künstler. Dem Lernenden sollen sie durch Belehrung und Darbietung der wissenschaftlichen Hülfsmittel die Möglichkeit gewähren, sich an ihnen zu eigenem, selbständigem Urtheil heranzubilden. Dem Forscher sollen sie wissenschaftlich geordnete Archive bilden, Sammlungen von Documenten der Kunstgeschichte der betreffenden Landestheile, aus denen er schöpfen kann für das Studium der Geschichte.
Solche Kunstsammlungen werden zu einem wirklich lebendigen, befruchtenden Quell künstlerischer und geistiger Anregung werden, die hundertfältigen Ersatz bieten wird für das, was man an Menge der Kunstwerke eingebüßt hat, die ihre Kraft zeigen und besser als alle Gesetze und Ausfuhrverbote das künstlerische Erbe der Nation nicht nur erhalten, sondern auch vermehren wird.
Zugleich mit dem Wunsche, daß diese schwere, aber schöne Ausgabe glücklich gelöst werde, können wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Erkenntniß, die sich allen Schwierigkeiten zum Trotz siegreich Bahn bricht, auch in der Durchführung der Reorganisation zum Ausdruck kommen werde. Avanti!
Paul Kristeller.