Heft 
(1892) 70
Seite
454
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Wrrthschasts- und finanzpolitische Rundschau.

Während die französische und englische Leserwelt von jeher von ihren Zeitschriften, auch allgemein literarischen Inhalts, eine regelmäßig fortlaufende Information über den Stand der Weltwirthschaft und der Weltsinanzen erwartet und erhält, ist man in Deutschland von ähnlichen Voraussetzungen noch so weit entfernt, daß ein entsprechen­der Versuch fast der Entschuldigung bedarf. Es mag dies zum Theil mit der so­genanntenidealen" Richtung des deutschen Geisteslebens Zusammenhängen. Es mag auch zum Theil durch die Thatsache bedingt sein, daß uns politische Ziele, welche die anderen Nationen längst erreicht hatten, allzu lange in Anspruch nahmen, als daß dieGebildeten" für den wirthschaftlichen Hintergrund der politischen Vorgänge ge­nügende Muße und genügendes Verständniß hätten finden können. Heutzutage würde ein eventuell mangelndes Interesse für eine allgemein aufklärende Betrachtung der wirthschaftlichen Vorgänge weder durch das Eine noch durch das Andere mehr ent­schuldbar sein, und tatsächlich verlangt auch ein immer größeres Publicum nach Be­lehrung auf den einschlägigen Gebieten.

Auch wir Deutschen haben endlich gelernt, daß die Fragen der materiellen Existenz im Leben der Völker von durchschlagendster Bedeutung sind: die Frage, ob Schutzzoll, ob Freihandel, hat ganze Stände, ja ganze Landestheile gegeneinander aufgebracht. In dem Streite über die sociale Gesetzgebung, zuletzt um Aufrechterhaltung oder um Beschränkung der sogenannten Gewerbefreiheit, haben wir es erlebt, daß die Theorien der äußersten Rechten und der äußersten Linken, die der Orthodox-konservativen und der Socialdemokraten sich die Hand reichten, und zunächst in der Sonntagsruhe, dann in einer Reihe anderer Momente desArbeiterschutzes" das Herz der Nation gewannen, so daß heute von der großen Mehrheit gebilligt und gewünscht wird, was vor Kurzem fast nur von diesen beiden extremen Parteien vertreten worden war. Und die empfind­liche Berührung, in welche z. B. gerade gegenwärtig das neue preußische Einkommen­steuergesetz jeden Bürger mit seinem engeren Vaterlande bringt, ist ein deutlich empfundener Beweis dafür, daß die materielle zu den wichtigsten und pflichtbewußtesten Leistungen des Staatsbürgers gehört.

Aber ganz abgesehen davon, daß materielle Interessen sür uns Menschen wirkliche Lebensinteressen sind, bieten selbst Demjenigen, dem Wissenschaft Lehre von den Idealen ist, die Vorgänge des wirthschaftlichen Lebens die reichste Nahrung. Oder ist es etwa nicht ein idealer Zug, wenn die Freihandelspartei, unbekümmert um die Mißerfolge ihrer Richtung, während der letzten Jahrzehnte den Gedanken aufrecht er­halten hat, daß die Völker frei miteinander Verkehren, daß die Menschheit sich ihrer Einheit bewußt bleiben soll? Und steckt nicht andererseits ein Stück Idealismus auch in der gegentheiligen Forderung, welche inmitten des sich immer weiter ent­wickelnden Weltverkehrs die Pflege und weitere Ausbildung der Volksindividualität als wirthschaftliches Ganze verlangt, welche demgemäß die wirthschaftlichen Kreise national abgeschlossen ausgestalten und zusammenschließen will? Freihandel und