Wirthschafts- und finanzpolitische Rundschau.
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Schutzzoll bezeichnen hier nur dieselben beiden Pole der Entwicklung, welche als „Humanität" und „Nationalität" im geistigen Leben der europäischen Völker auf den verschiedensten Gebieten uns immer wieder begegnen. — Und jener Streit um ein größeres oder geringeres Maß von Gewerbefreiheit (um bei denselben Beispielen aus dem Fragenkreise der Gegenwart zu bleiben) spiegelt im Grunde genommen nur den großen Gegensatz der beiden Anschauungen in sich wider, welche den Menschen durch sich selbst oder durch die G em eins chast, der er angehört, glücklich machen wollen. Auf der einen Seite möglichste Freiheit für den Einzelnen, sich möglichst viel Lebensgüter zu verschaffen, aber auch sie seinem Nächsten zu entziehen — auf der anderen, möglichste Einengung des Einzelnen, möglichste Stärkung der Gesammtheit, welche ihn beschränkt zu Gunsten der Anderen, aber auch alle Anderen zu seinen Gunsten, llaissk? t'airs und active Socialdemokratie sind nur die wirthschastspolitischen Erscheinungsformen für die uralten ethischen Gegensätze des Selbstintereffes und -Vertrauens und der Hingabe an ein größeres Ganze. Seitdem der Psalmist davor gewarnt, sich auf die Edlen des Volkes zu verlassen, seitdem die Stoiker die gepredigt, die Römer ihr „kortss kortnna aäjuvatZ hat das ethische Ideal, daß Jeder seines Glückes Schmied sein solle, auch im wirthschaftlichen Leben nie ganz seine Geltung verlieren können. Aber seitdem Plato anderseits die Lehre verkündet, daß der wahre Mensch erst in der menschlichen Gemeinsamkeit sich zeige, seitdem die ersten Christengemeinden den praktischen Versuch machten, die Wohlfahrt der einzelnen Persönlichkeiten in die der Gemeinschaft ausgehen zu lassen, ist das Ideal, dem Individuum seine Glückseligkeit durch Maßregeln der Gesammtheit zu verbürgen, seinerseits auch aus dem Wirthfchaftsleben nicht wieder verschwunden. — Man blicke zurück auf die letzten Berathungen über die Neuregelung der Einkommensteuer in Preußen! Pochte doch selbst an die Pforten des preußischen Abgeordnetenhauses, welches durch seinen Wahlmodus gegen den vierten Stand geschloffen zu sein glaubte, deutlich, vernehmbar und wirksam die Anschauung, daß die Steuer dazu da sei, dem Reichen zu nehmen und dem Armen zu geben. Schon glaubte man sich hier in Vertheidigungszustand setzen und daran erinnern zu müssen, daß selbst ein „Millionär schließlich doch auch ein Mensch sei". Kein Zweifel, es melden sich hier in neuen Plänkeleien die Vorboten des großen, abermals thatsächlich werdenden Kampfes, in welchem aus der einen Seite Schutz des Besitzes die Parole ist, auf der anderen gerechtere Vertheilung desselben — auch dies zwei Ideale, um deren Versöhnung künftige Generationen zu ringen haben werden.
Es gibt heute in Deutschland nur zwei Parteien, welche, aus große Massen sich stützend, eine gemeinsame Weltanschauung zwischen Führern und Geführten ausweisen. Die eine vertritt die katholische, die andere die socialdemokratische Weltanschauung. Jene, von religiösen Gedanken ausgehend, hat die Fragen des materiellen Völkerlebens weit mehr und weit kräftiger in den Bereich ihrer Betrachtung gezogen, als man es sich in dem protestantischen Norddeutschland träumen läßt; diese, von den materiellen Existenzbedingungen des täglichen Lebens ausgehend, hat sich bis zu den höchsten Fragen des sittlich-religiösen Lebens emporgeschwungen und sucht denselben auf ihre Art gerecht zu werden. Ketteler ist vom Erzbischof zum Socialpolitiker, Bellamy ist vom Socialdemokraten zum Apostel geworden. Zwischen diesen beiden Massen, deren jede in sich geschloffen, durch das einheitliche Band einer großen Weltanschauung zusammengehalten wird, steht das unabhängige, gebildete Bürgerthum, bis vor Kurzem noch das führende Element der deutschen Nation, in sich zerklüftet und zerrissen da. Unter den verschiedenen Gründen, welche diesen Wandel herbeigesührt haben, macht sich auch einigermaßen die Kühle geltend, mit welcher man hier den wirthschaftlichen Fragen gar zu lange gegenüberstand.
Als die wirthschaftlichen Probleme der Neuzeit, dem Drucke der Verhältnisse nachgebend, schließlich doch in die Debatten der Parlamente, in die Leitartikel der Zeitungen, hier und da auch in die Programme der bürgerlichen Parteien eindrangen, gewöhnte man sich, sie als „politische" Fragen, d. h. als solche zu betrachten, aus die man von