Heft 
(1892) 70
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Deutsche Rundschau.

einem bestimmten Parteistandpunkte aus, annehmend oder ablehnend, antworten müsse. So sicher aber keines der heute bestehenden Parteiprogramme das Programm der Zu­kunst ist, so sicher gehört zu den Vorbedingungen für einen größeren Einfluß der bürgerlichen Parteien eine liebevollere Beschäftigung mit den wirtschaftlichen Problemen, in etwas weitherzigerer Unabhängigkeit von der politischen Parteistellung.

Und dieser Beschäftigung sollen unsere Ueberblicke dienen. In größeren Zwischen­räumen wiederkehrend, werden sie sich von dem Wunsche sernhalten, die neueste Nach­richt des Weltmarktes, wenn sie am Morgen eingetroffen, schon am Abend allseitig zu beleuchten. Sie werden sich der Aufgabe widmen, das einzelne Ereigniß im Rahmen des Zusammenhanges und den Zusammenhang der Weltverhältnisse an der Hand des einzelnen Ereignisses darzulegen.

Für Diejenigen aber, die etwa noch immer befürchten, an Idealismus einzu­büßen, wenn sie den materiellen Existenzbedingungen der Völker nachgehen, schreiben wir über die Eingangspforte:Introitk! nam 6t die ckei 8unt."

Berlin, Mitte Februar 1892.

Im Vordergründe des weltwirthschaftlichen Interesses stehen zur Zeit die Handelsverträge". Die drei Mächte der Tripelallianz, Deutschland, Oesterreich- Ungarn und Italien, haben die Zollbelastung ihres Handelsverkehrs einer vertrags­mäßigen Regelung unterstellt, in welcher eine Anzahl Einfuhrzölle ermäßigt, während bei anderen eine Erhöhung vertragsmäßig ausgeschlossen wurde. Ermäßigungen und Bindungen" gelten auf zwölf Jahre. Diesem System sollen gegenwärtig die Schweiz und Belgien und, wenn den Gerüchten zu trauen ist, auch noch weitere kleinere Staaten angegliedert werden.

Nicht nur bei uns in Deutschland haben die Verträge eine bemerkenswertste Auf­nahme gefunden. Dem Widerspruch, der aus den Reihen der Schutzzöllner, wenn auch nicht allgemein, so doch laut und vernehmlich ertönte, stand auf freihändlerischer Seite zwar Beifall, aber keineswegs Enthusiasmus gegenüber. Der Jammer einzelner schutz- zöllnerischer Industrien wurde von keinem Jubel der Hafenstädte übertönt, wie man ihn sonst bei freieren Verträgen zu vernehmen Pflegte. Und diese Verträge, die bei einem Theil der Schutzzöllner den stärksten Widerspruch hervorriefen, ohne volltönende Zustimmung auch nur einem einzigen Freihändler zu entlocken, haben im Reichstage eine geradezu überwältigende Mehrheit gefunden.

Dieses eigenthümliche Verhältniß erklärt sich für uns sofort, wenn wir nur den Gedanken aufgeben, als ob sich hier Alles um den Gegensatz zwischen Schutzzoll und Freihandel drehen müsse, und vielmehr dem wahren Ursprünge der neuen Idee nachgehen.

Noch um die Mitte der siebziger Jahre waren bei uns sowohl Schutzzöllner als Freihändler, so weit sie auf radicale Durchführung ihrer Pläne bedacht waren, Gegner jeder vertragsmäßigen Fesselung gegenüber dem Auslande. Für beide war das Ideal der autonome Zolltarif; für die Einen, weil sie ihn möglichst hoch, für die Anderen, weil sie ihn möglichst niedrig gestalten wollten. Aber bereits im Jahre 1879 ver­öffentlichte R. von Kaufmann ein WerkH, dessen Ausgangspunkt weder das schutz- zöllnerische noch das freihändlerische Ideal, sondern der in fast ganz Europa that- sächlich geschaffene Zustand einer Schutzzollpolitik war. Das Buch beschäftigte sich hauptsächlich mit der Frage, wie groß ein Gebiet sein müsse, um eine selbständige Zollpolitik verfolgen zu können.

Einst war das Stück Land, das der Einzelne überschaute, bis zum nächsten Berg oder Fluß für ihn seine Wirthschaftswelt, später die Dorfgemeinde, der Kreis, die Provinz, dann die Nation. Heute wissen wir, daß im wirthschaftlichen Leben der Erdball die Welt ist, daß nur Welthandelspolitik Handelspolitik ist.

I/a88oeiation. «louaoiero clo t'Lurope OeiNinle. I'rieis 1879.