Heft 
(1892) 70
Seite
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Deutsche Rundschau.

das Gleichgewicht halten oder wenigstens mit Aussicht auf Erfolg diese Balance er­streben können. Die Staaten des westlichen Europas sind nicht groß genug, um sich jeder für sich abschließen zu können; zu groß aber und zu stark, um sich willenlos dem Stärkeren in die Arme zu werfen und sich von diesem wirthschaftlich beherrschen zu lassen.

Zusammenschließung also gibt die einzige Möglichkeit einer Wirthschaftspolitik für die europäischen Staaten. Ein Gebiet, wie das des Deutschen Reiches, ist heut­zutage viel zu klein, es hat eine viel zu gleichartige Cultur, als daß es für den Aus­tausch von Rohproducten und Jndustrieerzeugnissen sich ebenso auf sich selbst stellen könnte wie Rußland, das vom Lande der Olivenhaine bis zu den Schollen der Eis­meere in alle Klimate reicht, oder wie Amerika, das vom Urwald bis zur Industrie­stadt alle Kulturstufen innerhalb der eigenen Grenzen aufweist. Durch eine weitgehende Zusammenfchließung würde der Druck einer gemeinsamen Schutzzolllinie desto mehr vermindert, je weiter dieselbe gezogen ist; andererseits erhielte eine Schutzzollpolitik auf so weiter Grundlage auch eher die Möglichkeit längeren Bestehens. Schon v. Kaufmann hatte feinem Buche eine directe Spitze nach Aufrichtung eines mittel­europäischen Zollbündniffes gegeben. Ratzinger nahm 1881 den Gedanken in seinem Buche:Die Volkswirthfchaft in ihren sittlichen Grundlagen" wieder auf; dann kam in derAllgemeinen Zeitung", 1884, Peez mit feinen Aufsätzen über:Wandlungen in der Weltwirthschaft und Weltpolitik", hierauf, in tiefer Begründung, 1885 Schäffle mit feiner Abhandlung:Kornzoll, Währung und volkswirthfchaftlicher Festlandsverein", und gleichzeitig Brentano mit Aufsätzen und Reden. So konnte v. Kaufmann bereits 1886 in der TübingerStaatswisfenfchaftlichen Zeitschrift" darauf Hinweisen, daß fein Gedanke, der 1879 noch den Zeitgenossen eineartige Utopie" schien, inzwischen zahlreiche, eifrige und einflußreiche Anhänger gewonnen habe.

Die Wirkung dieser Idee, wie sie immer weitere Kreise erfaßte, war zunächst die, daß die extremen Freihändler von ihrem ursprünglichen Standpunkt der Gegnerschaft gegen Handelsverträge nach und nach zurückkamen und gerade in vernünftigen Handels­verträgen ein allmäliges Vorwärtsschreiten erblickten. Aber auch die Schutzzöllner, die aus Liebe zum Schutzzoll nicht all? und jede Besinnung verloren hatten, lernten mit der Zeit einsehen, daß der Schutzzoll dem Untergang geweiht fei, wenn er sich nicht auf eine breitere Basis stelle. So konnte ein aufmerksamer Beobachter schon in den letzten Jahren die Neigung zu Handelsverträgen zunächst im frei­händlerischen, dann aber auch im schutzzöllnerischen Lager wachsen sehen. Und die jetzt zum Abschluß gelangten Handelsverträge sind weder ein Sieg des Freihandels noch des Schutzzolls. Sie verdanken vielmehr ihre Entstehung dem wachsenden Ein- verständniß der gemäßigten Elemente auf beiden Seiten, dem die regierenden Kreise entgegenkamen, bevor die Einverstandenen sich ihres Einverständnisses auch nur be­wußt wurden.

Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, stellen die mitteleuropäischen Handelsverträge keine entschiedene Wendung in der mitteleuropäischen Zollpolitik dar. Sie bezeichnen vielmehr das Stadium, bis zu welchem kundige und besonnene Männer ohne Unter­schied der wirthschaftspolitischen Ueberzeugung gemeinsam gehen können. Sie bezeichnen einen Schritt, der gethan werden mußte, sei es, daß die nächste Zukunft schutzzöllnerisch, sei es, daß sie freihändlerisch werden sollte. Darum läßt sich auch voraussehen, daß in Folge der Verträge eine irgendwie erhebliche Aenderung der thatsächlichen Handelsverhältnisse nicht eintreten wird; nach dieser Seite sind Hoffnungen und Be­fürchtungen in gleicher Weise übertrieben. Aber man kann coiistatiren, daß mit diesen Verträgen eine bedeutende Aenderung sich vollzogen hat in dem Temperament, Von welchem unsere Handelspolitik beherrscht wird; daß an Stelle eines gewissen Fanatismus des Schutzzolls die ruhige und objective Würdigung seiner Existenz­bedingungen im Einzelnen getreten ist. Das ist ein Ergebniß, gleich erfreulich für die­jenigen, welche den Schutzzoll wünschen, wie für diejenigen, welche ihn wegwünschen.