Wirthschafts- und finanzpolitische Rundschau.
459
In Nichts vielleicht hatte sich der Fanatismus der bisherigen europäischen Schutzzollpolitik sür den Sachkenner so deutlich gezeigt, wie in der einmal ausgestellten und dann durch zehn Jahre lang säst allgemein geglaubten Behauptung, daß Zollbündnisse nur zwischen Ländern mit gleicher Wirthschastscultur möglich seien. Genau das Gegeutheil ist das Richtige. Wie wir bereits oben sagten, gehört es vielmehr zu den Zwecken internationaler Zollvereinbarungen, Länder verschiedener Wirthschastscultur mit einander in Beziehung zu setzen. Ja, die Dauerhaftigkeit derartiger Verträge wird zunächst gerade davon abhängig sein, daß die Länder eine gewisse erhebliche Verschiedenheit von einander zeigen und so eine gegenseitige Ergänzung ermöglichen. Glücklicherweise glauben wir, dies von den drei Mächten der Tripelallianz behaupten zu können. Für das Verhältniß des Deutschen Reiches zu Oesterreich-Ungarn genügt allein der Hinweis daraus, daß die ungarische Reichshälfte noch immer überwiegend Rohproducte aus den Weltmarkt wirst, während Deutschland ihr Jndustrieartikel liesert. Nachdem alle bisherigen Schutzmaßregeln den Nachweis erbracht haben, daß Deutschland seinen Bedarf an Getreide nicht mehr selbst zu decken im Stande ist, würden schon die weiten Getreideflächen der beiden ungarischen Tiefebenen die wechselseitige Ergänzungssähigkeit der beiden Reiche genügend beweisen. Das Wirthschafts- leben Italiens aber wird in unserem Jahrhundert, im Zeitalter des Dampfes, durch kein einziges positives Merkmal so charakterisirt, wie durch den Mangel an Kohle. Dieser Mangel allein würde ausreichen, um Italien zu einer Zollfreundfchaft mit irgend einem kohlenreichen Lande zu nöthigen. Und solange Frankreich und Spanien in diesem Punkte nichts zu bieten vermögen, wird der „lateinische Zollbund" wohl immer ein frommer Wunsch bleiben. Vor längerer Zeit hat ein hervorragender englischer Politiker daraus aufmerksam machen zu müssen geglaubt, daß man eigentlich für Italien gar keinen greifbaren Zweck einsehen könne, um dessentwillen es sich dem Dreibunde angeschlossen habe. Kohle und Eisen werden eines Tages den Anschluß deutlicher rechtfertigen, als dies irgend ein politisches Argument hätte thun können. So verkehrt ist die vielfach gepredigte Weisheit, daß man politische Bündnisse nicht mit wirthschastlichen Abmachungen „belasten" dürfe.
Sind die Handelsverträge kein Werk des Augenblicks, so werden sie aus die Dauer zu einer weitergehenden wirthschastlichen Annäherung der Verbündeten Staaten, vor Allem zu einer größeren Theilnahme an dem gegenseitigen Gedeihen führen. Wenn im Augenblick von einer solchen Theilnahme nur wenig zu sehen ist, so liegt dies Wohl mit an der wirthschastlichen Depression, welche nicht nur über den führenden Staat — denn daß dies Deutschland ist, wird von keiner Seite bezweifelt — gerade gegenwärtig ausgebreitet ist. Von einer allgemeinen Handelskrise darf man vorläufig nicht sprechen, und doch erzittert der internationale Geldmarkt noch unter den gewaltigen Schlägen, die er in den letzten zwei Jahren erlitten. Wenn die Berliner Börse trotzdem um die Jahreswende eine Geldflüssigkeit zeigte, wie sie seit langer Zeit nicht dagewesen war, so ist man leider vollständig einig darüber, daß diese „Geldflüssigkeit" nichts Anderes ist, als die Folge der Furcht des Kapitals, selbst vor der Anlage in sogenannt sichersten Werthen, geschweige denn in industriellen Unternehmungen und auswärtigen Papieren. Diese Abneigung war in immer steigendem Maße im Lause des ganzen Jahres 1891 vorhanden und durch den Rückschlag gegen die Preistreibereien früherer Jahre genügend erklärt. Der ungeheure Umfang der Depression hat, neben den ungünstigen Ziffern der Handelsbilanz Deutschlands und politischem Unbehagen, überwiegend seinen Grund in lokalen Erscheinungen der Berliner Geschäftswelt. Der Zusammenbruch eines der angesehensten Berliner Bankhäuser und noch mehr die plötzlich enthüllten schamlosen Veruntreuungen, die sich der Leiter desselben hatte zu Schulden kommen lassen, wirkten wie ein Blitzschlag, und die zeitlich damit zusammentreffenden Fallissements von vier andern Firmen thaten das Ihrige, um die Wirkung zu vermehren. Alles dies in einer Zeit, welche ohnedies mit niedergehenden Werthen an der Fondsbörse zu rechnen hatte.