Politische Rundschau.
405
Munde derjenigen einen komischen Beigeschmack, die selbst den Willen des gegenwärtigen Papstes mißachten, indem sie in wenig verhüllter Form ein Pronunciamento gegen dieselbe Regierung richten, mit der Leo XIII., wie er durch den Cardinal Lavigerie in aller Form verkünden ließ, im Frieden leben möchte.
Die Erklärung der französischen Cardinal-Erzbischöse ist in sämmtlichen Kirchen des Landes verlesen worden. Sicherlich werden die Zuhörer aber nur auf diejenigen Stellen der Kundgebung Gewicht gelegt haben, in denen von der angeblichen Verfolgung der katholischen Kirche die Rede ist. Durch diese jüngsten Vorgänge in Frankreich wird jedenfalls für jeden unparteiischen Beurtheiler aufs Deutlichste erwiesen, wie der Clerus selbst nicht davor zurückschreckt, sich in Widerspruch mit dem ausgesprochenen Willen des Papstes zu setzen, wenn es gilt, mit dem Staate um die Macht zu ringen. Alle versöhnlichen Anwandlungen Einzelner können nicht die That- sache verschleiern, daß die katholische Hierarchie, weit entfernt, sich ans ihr eigenes Gebiet zu beschränken, dieses stets erweitern will. Zeigt sich aber in Frankreich von Neuem, eine wie geringe Achtung der Clerus sogar für die höchste Autorität der katholischen Kirche, den Papst, bekundet, sobald derartige Machtsragen in Betracht kommen, so bildet gewissermaßen ein Pendant dazu das Verhalten der Ultramontanen in Belgien, die trotz ihrer Versicherungen der Loyalität für den König diesen sogleich im Stiche lassen, sobald ihre eigenen Interessen gefährdet zu werden scheinen. Dies zeigte sich in der Frage der von König Leopold II. als unerläßlich bezeichneten allgemeinen Wehrpflicht und neuerdings wieder in Hinsicht auf das „königliche Referendum", das in der revidirten Verfassung eine bedeutsame Rolle spielen soll.
In Belgien ist diese vielerörterte Frage der Verfassungsrevision in eine neue Phase getreten, indem der Conseilpräsident Beernaert in der Sitzung der Repräsentantenkammer vom 2. Februar den von sämmtlichen Mitgliedern des Cabinets Unterzeichneten Entwurf der Erklärung verlas, in der die einzelnen Punkte der geplanten Revision aufgeführt werden. Dieses „xrojet äs ääelaration" ist von einem umfangreichen äss motiks" begleitet, das nur die Unterschrift des Conseilpräsidenten und Finanzministers Beernaert trägt. Hervorgehoben zu werden verdient, daß jede der großen Parteien in Belgien einen anderen Zweck mit der Versassungsrevision verfolgt. Die belgische Socialdemokratie, insbesondere die Grubenarbeiter, so oft sie in den letzten Jahren einen Strike in Scene setzten, verbanden regelmäßig die Frage der Versassungsrevision mit den Forderungen der Ermäßigung der Arbeitszeit und der Erhöhung des Lohns. Ganz ernsthaft verlangten die Grubenarbeiter bei allen Strikes das allgemeine Stimmrecht, als ob die Grubenbesitzer in der Lage gewesen wären, in dieser Hinsicht auch nur das geringste verbindliche Zugeständniß zu machen. Die socialistische Partei in Belgien versteht eben im Wesentlichen unter der Verfassungsrevision die Einführung des allgemeinen Stimmrechts. Auch die übrigen Parteien pflichteten im Principe einer Erweiterung des Stimmrechts bei, mit Ausnahme einer kleinen, von dem Abgeordneten Woeste geführten Gruppe, die jeder Revision der Verfassung feindselig ist, weil dadurch die clericale Mehrheit der Repräsentantenkammer beseitigt und durch eine liberale ersetzt werden könnte.
Abgesehen von dieser wenig zahlreichen parlamentarischen Gruppe sind alle übrigen Parteien darüber einig, daß das Stimmrecht eine Ausdehnung erfahren müßte. Nur über die Mittel und Wege gehen die Ansichten aus einander, wobei sogleich betont zu werden verdient, daß innerhalb der Rechten selbst hier und da Stimmen zu Gunsten des sukkragtz unlvsrsol laut werden, während sehr liberale Männer in diesem allgemeinen Stimmrechte keineswegs das Allheilmittel für sämmtliche politische Schäden erblicken. Der Grund dieser an sich seltsamen Erscheinung leuchtet wohl ein, wenn erwogen wird, daß die reactionären Vertheidiger des allgemeinen Stimmrechts sich der Hoffnung hingeben, die ländliche Bevölkerung, die das Hauptcontingent der Wähler stellen würde, müßte ihnen zumeist Heerfolge leisten, wozu die Propaganda der Geistlichen in hervorragender Weise Mitwirken könnte. Andererseits befürchten die gemäßigteren Elemente der Linken, daß das allgemeine Stimmrecht theils der Rechten,
Deutsche Rundschau. XVIII, 6. 30