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Deutsche Rundschau.
theils den Radicalen und der socialdemokratischen Partei Zuwachs sichern würde. So erklärt sich die Erscheinung, daß einige Abgeordnete der Rechten mit den Radicalen und den Socialdemokraten für das sukkrags univ6r86l eintreten, während dieses von altbewährten liberalen Volksvertretern mit Entschiedenheit zurückgewiesen wird.
Die Regierung selbst ist im Principe dem sogenannten „Occupationssystem" geneigt. dessen Grundlage die Bestimmung ist. daß jeder Bürger wahlberechtigt sein soll, der eine eigene Wohnung oder ein Grundstück von einem noch festzusetzenden Kataster- werthe als Eigenthümer oder Miether innehat. Dieses Wahlsystem findet auch bei der überwiegenden Mehrheit der Rechten Anklang. Dagegen wollen die gemäßigteren Liberalen unter der Führung Fröre-Orbarlls das Wahlrecht von einem Befähigungsnachweise abhängig gemacht wissen. Dieses „Capacitätssystem" soll ebenso sehr den liberalen Elementen ein Uebergewicht sichern, wie die Clericalen hoffen, daß bei dem „Occupationssystem" durch die zahlreichen bemittelten Wähler der ländlichen Bevölkerung diejenigen der Industriellezirke in den Hintergrund gedrängt werden. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, erscheint die geplante Revision der Verfassung als ein Kampf um die politische Macht. Da die Fragen: „Occupationssystem", „Capacitätssystem" oder „allgemeines Stimmrecht" bei den parlamentarischen Verhandlungen in Belgien im Mittelpunkt der Erörterungen stehen werden, erscheint es geboten, auf den inneren Zusammenhang dieser verschiedenen Systeme mit den Interessen der einzelnen Parteien hinzuweisen.
Ist die Ausdehnung des gegenwärtig auf wenig mehr als 130 000 Wähler begrenzten Stimmrechts der wichtigste Bestandtheil der großen Reform, so bezieht sich diese doch noch auf eine ganze Reihe von Punkten, die allerdings zum Theil von
untergeordneter Bedeutung sind. Die Fürsorge, die König Leopold II. dem unab
hängigen Congostaate angedeihen läßt, gelangt auch in dem der Repräsentantenkammer unterbreiteten Entwürfe zum Ausdrucke. Der erste Artikel der bestehenden Verfassung stellt nämlich unter Anderem die Eintheilung Belgiens in neun Provinzen fest und erklärt für zulässig, daß diese Zahl auf legislativem Wege erhöht werden darf. Dagegen ist in der Constitution in keiner Weise die Erwerbung eines so ausgedehnten Landgebietes wie der afrikanischen Kolonie am Kongo vorgesehen. Im Hinblick auf die in Betracht kommenden Interessen erscheint es daher geboten, Wandel zu schaffen, wobei einem besonderen Gesetze überlassen werden muß. die bürgerlichen und politischen Rechte der Bevölkerung zu regeln, die im Congostaate unter die belgische Herrschaft gestellt werden soll. Sicherlich wird es gelingen, diese Verhältnisse ohne große
Schwierigkeiten zu ordnen. wie denn auch die Bestimmungen der geplanten Ver
fassungsrevision über gewisse Eventualitäten der Thronfolge, die bisher in der Constitution nicht berücksichtigt worden sind, ihre Erledigung finden werden.
Weit schwieriger erscheint die Lösung eines anderen Problems, auf die insbesondere Leopold II. das größte Gewicht legt. Durch das Referendum soll der Krone das Recht gewährt werden, sowohl über wichtige Gesetzentwürfe, noch ehe sie der Repräsentantenkammer oder dem Senate unterbreitet werden, durch Abstimmung die Ansicht der Bevölkerung einzuholen, als auch die von den Kammern beschlossenen Gesetze dem Volke zur endgültigen Gutheißung oder Verwerfung vorzulegen. Von dem in der Schweiz verfassungsmäßigen Referendum, das die in einzelnen Cantonen übliche Volksabstimmung über Gesetzvorschläge bezeichnet, unterscheidet sich das für Belgien vorgeschlagene in wesentlicher Beziehung.
Begründet wird das letztere mit der Wichtigkeit, die dem Schutze der Minoritäten gegen die Ausschreitungen der Mehrheiten beigemessen werden soll. Je demokratischer eine Verfassung ist, desto mehr erscheint es, wie in den Motiven hervorgehoben wird, geboten, ein Gegengewicht für das Vorherrschen der bloßen Zahl zu schaffen. Einmal wird es als bedeutsam bezeichnet, daß die constitutionelle Waffe des Veto wirksamer gestaltet werde, indem ihrer Anwendung ein günstiger Ausgleich der Bevölkerung vorangehe; dann aber wird darauf hingewiesen, daß die Ergebnisse einer Befragung der Wähler sich sehr von demjenigen einer Kammerauflösung unterscheiden könnten. „In