Heft 
(1879) 27
Seite
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Theodor Fontane in Berlin.

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Wo die Rathmannen zusammen traten, und sie brach aus und schritt rasch auf das Thor zu, und wie gestern die Lange Straße hinaus.

Um das Rathhaus her war ein Gedränge. Marktfrauen boten seil, und sie sah dem Treiben zu. Ach, wie lauge war es, daß sie solchen Anblick nicht gehabt und sich seiner gefreut hatte! Und sie ging von Stand zu Stand und von Kram zu Kram, um das halbe Rathhaus herum, bis sie zuletzt an die Rückwand kam, wo nur noch ein paar einzelne Scharren standen. In Höhe dieser war eine Steintafel in die Wand eingelassen, die sie früher an dieser Stelle nie bemerkt hatte. Und doch mußte sie schon alt sein, das ließ sich an den: graugrünen Moos und den altmodischen Buchstaben erkennen. Aber sie waren noch deutlich zu lesen. Und sie las:

Hastu Gewalt, so richte recht,

Gott ist Dein Herr und Du sein Knecht;

Verlaß Dich nicht auf Dein Gewalt,

Dein Leben ist hier bald gezahlt,

Wie Du zuvor hast 'richtet mich,

Also wird Gott auch richten Dich;

Hier hastu gerichtet nur kleine Zeit,

Dort wirstu gerichtet in Ewigkeit.

Wie schön!" Und sie las es immer wieder, bis sie jedes Wort aus­wendig wußte. Dann aber ging sie rasch um die zweite Hälfte des Rath­hauses herum, und stieg die Freitreppe hinauf, die, mit einer kleinen Biegung nach links, unmittelbar in den Sitzungssaal führte.

Es war derselbe Saal, in dem, zu Beginn unsrer Erzählung, die Puppen­spieler gespielt und das verhängnißvolle Feuerwerk abgebrannt hatten. Aber statt der vielen Bänke stand jetzt nur ein einziger langer Tisch inmitten desselben, und um den Tisch her, über den eine herunterhängende grüne Decke gebreitet war, saßen Burgemeister und Rath. Zuoberst Peter Guntz, und zu beiden Seiten neben ihm: Caspar Helmreich, Joachim Lemm, Christoph Thone, Jürgen Lindstedt, und drei, vier andre noch. Nur Rathsherr Zernitz hatte sich mit Krankheit entschuldigen lassen. An der andern Schmalseite des Tisches aber wiegte sich Gerdt auf seinem Stuhl, dasselbe Actenbündel in Händen, in dem er gestern gelesen hatte.

Er verfärbte sich jetzt und senkte den Blick, als er seine Schwester eiu- treten sah, und aus allem war ersichtlich, daß er eine Begegnung an dieser Stelle nicht erwartet hatte. Grete sah es und trat an den Tisch und sagte: Grüß Euch Gott, Peter Guntz. Ihr kennst mich nicht mehr; aber ich kenn' Euch. Ich bin Grete Minde, Jacob Minde's einzige Tochter."

Alle sahen betroffen aus, erst auf Grete, dann aus Gerdt, und nur der alte Peter Guntz selbst, der soviel gesehen und erlebt hatte, daß ihn nichts mehr verwundersam bedünkte, zeigte keine Betroffenheit und sagte freundlich:Ich kenn' Dich wohl. Armes Kind. Was bringst Du, Grete? Was führt Dich her?"

Ich komm', nur zu klagen wider meinen Bruder Gerdt, der mir mein