Theodor Fontane in Berlin.
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sie Kinderlieber vor sich hin und ries in schrillem Ton und mit erhobener Hand in die Stadt hinein: „Verlaß Dich nicht ans Dein' Gewalt." Und
dann folgte sie wieder den Glocken, nah und fern, und mühte sich den Ton jeder einzelnen herauszuhören. Und wenn ihr Zweifel kamen, so stritt sie mit sich selbst und sprach zu Gunsten dieser und jener, und wurde wie heftig in ihrem Streit. Endlich aber schwiegen alle, auch Sanct Stephan schwieg, und Grete, das Kind ausnehmend, das sie neben sich in das Mauergras gelegt hatte, sagte: „Nun ist es Zeit." Und sicher, wie sie die Treppe hinauf
gestiegen, stieg sie dieselbe wieder hinab, und nahm ihren Weg, an den brennenden Scheunen entlang, auf die Hauptstraße zu.
Hunderte, von Furcht um Gut und Leben gequält, rannten an ihr vorüber, aber niemand achtete der Frau, und so kam sie bis an das Minde'sche Haus und stellte sich demselben gegenüber, an eben die Stelle, wo sie gestern gestanden hatte.
Gerdt konnte nicht zu Hause sein, alles war dunkel; aber an einem der Fenster erkannte sie Trud und neben ihr den Knaben, der, auf einen Stuhl gestiegen, in gleicher Höhe mit seiner Mutter stand. Beide wie Schattenbilder und allein. Das war cs, was sie wollte. Sie passirte ruhig den Damm, danach die Thür und den langen Flur, und trat zuletzt in die Küche, darin sie jedes Winkelchen kannte. Hier nahm sie von dem Brett, auf dem wie früher die Zinn- und Messingleuchter standen, einen Blaker und fuhr damit in der Gluth-Asche des Herdes umher. Und nun tropfte das Licht und brannte hell und groß, viel zu groß, als daß der Zugwind es wieder hätte löschen können. jUnd so ging sie den Flur zurück, bis vorn an die Thür und öffnete rasch und wandte sich auf das Fenster zu, von dem aus Trud und ihr Kind nach wie vor aus die Straße hinaus starrten. Und jetzt stand sie zwischen Beiden. „Um Gottes Barmherzigkeit willen," schrie Trud, und sank bei dem Anblick der in vollem Irrsinn vor ihr Stehenden ohnmächtig in den Stuhl. Und dabei ließ sie den Knaben los, den sie bis dahin angst- und ahnungsvoll an ihrer Hand gehalten hatte. „Komm," sagte Grete, während sie das Licht auf die Fensterbrüstung stellte. Und sie riß den Knaben mit sich fort, über Flur und Hof hin, und bis in den Garten hinein. Er schrie nicht mehr, er zitterte nur noch. Und nun warf sie die Gartenthüv wieder in's Schloß und eilte, den Knaben an ihrer Hand, ihr eigenes Kind unterm Mantel, an der Stadtmauer entlang auf Sanct Stephan zu. Hier, wie sie's erwartet, hatte das Stürmen längst aufgehört, Glöckner und Meßner waren fort, und unbehelligt und unaufgehalten stieg sie vom Unterbau des Thurmes her in den Thurm selbst hinaus: erst eine Wendeltreppe, danach ein Geflecht von Leitern, das hoch oben in den Glockenstuhl einmündete. Als die vordersten Sprossen kamen, wollte das Kind nicht weiter, aber sie zwang es und schob es vor sich her. Und nun war sie selber oben und zog die letzte Leiter nach. Um sie her hingen die großen Glocken, und summten leise, wenn sie den Rand derselben berührte. Und nun trat sie rasch an die Schalllöcher,