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Ludwig Geiger in Berlin.
Diese sind individuell gefärbt, zeigen uns wahrhaft dichterische Persönlichkeiten und lassen uns die Veranlassungen erkennen, durch welche die Gedichte entstanden, die des 17. Jahrhunderts sind meist ohne jede eigenthümliche Färbung, schablonenartig, so daß weder Dichter noch Veranlassung erkennbar ist. Damals haben die Dichter noch ein Bewußtsein von sich, sie schleudern Worte kraft- müthigen Zornes gegen ihre Widersacher, gegen die Ungläubigen, ja sie unterfangen sich wohl mit Gott zu hadern und ihm, wenn auch nicht geradezu Vorschriften über die Weltregierung zu geben, so doch Vorstellungen zu machen über manches Uebel, das geschehen, manches Unrecht, das abzustelleu ist; jetzt aber wühlen sie mit Behagen in dem Bekenntnis; ihrer Sündhaftigkeit, winseln mit erheuchelter Demuth um Gnade und Erbarmen, setzen an die Stelle des wahrhaft erquickenden innern Zusammenhangs, in welchem die Dichter der Reformationszeit sich mit der Gottheit fühlten, süßlichwiderliche Spielereien mit „Lämmlein", „Jesulein", die, mögen die Liebkosungsworte noch so zahlreich sein, kein wahres Gefühl kundgeben; sie ersetzen durch die Zahl der Gedichte, was ihnen an Kraft, an dichterischem Gehalt gebricht.
Eine solche Verurteilung gilt den meisten Dichtern geistlicher Lieder in jener Zeit, all den Pfarrern und Schulmeistern, die sich für berechtigt und verpflichtet hielten, zu Gottes Lob in Versen zu sprechen, am wenigsten vielleicht zwei hervorragenden Dichtern, Paul Gerhardt und Simon Dach. Beide haben schöne Lieder gedichtet, Zeugnisse wahrer Frömmigkeit und poetischer Empfindung, aber keineswegs alle der Unsterblichkeit würdig, beide sind achtungswerthe, gelehrte, wackere Männer, jedoch nicht frei von seltsamen Eigenheiten. Dach (1605-—1659) hat sich sein ganzes Leben hindurch sehr quälen, für seinen Unterhalt Hochzeits- und Leichengedichte machen und sich vor Personen beugen müssen, die weit unter ihm standen, er macht darum manchmal den Eindruck eines Bettelpoeten und kann das warme Wort des Lobes, selbst wenn es wirklich von ihm gefühlt wird, wie für den Kurfürsten von Brandenburg, sein Haus und seinen Staat, nicht immer finden. Paul Gerhardt hat demselben Herrscher gegenüber, den Dach besang, eine Halsstarrigkeit gezeigt, die uns befremdlich ist, dessen Gebot, Schmähungen gegen Religionsverwandte aus der Kanzel zu unterlassen, sür unvereinbar mit seiner Ueber- zeugung erklärt, und um seinen Standpunkt zu wahren, seine Stellung in der Residenz mit einem Amt in einer Provinzialstadt vertauscht. Beide Dichter hätten, so sollten wir meinen, durch ihre Beziehungen zu dem Fürsten durch ihr Mitauschauen der Schrecknisse des Krieges, Veranlassung genug gehabt, von diesen Greueln in ihren Liedern zu reden, aber sie thun es selten genug, und wenn sie von Zerstörungen und Mord sprechen, so schildern sie so färb- und gegenstandslos, daß man an jeden beliebigen Aufruhr ebensogut denken könnte, wie an den gewaltigen Krieg, der Europa erschüttert, beide haben sie 1648 Friedenslieder gedichtet,, aber auch in ihnen erheben sie sich wenig über die conventionellen Phrasen. In den Fällen aber, in