Hdward Welkamy f.
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findet, waren unsre Bühnen, die es mit der lustigen Poesie halten, in der letzten Zeit fast durchweg aus Pariser Einfuhr angewiesen. Indes brachte die Boulevardkunst es am graugrünen Strand der Spree nicht wieder zu einem so klingenden Erfolge, wie dem „Brno du LeraplliiW im Residenztheater beschieden war. Weder Hennequins „Freuden der Häuslichkeit", worin einem alternden Junggesellen überzeugend dargethan wird, daß es nicht gut ist, sein Familienglück von der Ehe zweier andrer zu erwarten, noch Rolle und Gascognes „Fall Corignan" vermochten sich auf dem Spielplan zu halten. Der „Fall Corignan" ist natürlich ein Ehebruchssall, aber in seiner Satire auf den Richterstand so unergiebig breit und gleichzeitig so aufdringlich an Bissons witzsprühende „Familie Pont-Biquet" erinnernd, daß einem mit jedem Akt dieser verunglückten Posse der Ernst des Lebens deutlicher zum Bewußtsein kam. Amüsanter war des tollen Leon Gandillot „Villa Gabriele" , die dem Neuen Theater einen Erfolg brachte, trotzdem sein Löwe, der Komiker Alexander, schmollend die Hauptrolle abgelehnt hatte. Es handelt sich da um einen Gatten, der seine brave Frau beinahe hintergangen hätte und nun Francillons Rache fürchtet. Erstaunlich ist die reiche Akrobatenphantasie des Franzosen, der das mehr als schlichte Motiv zu einem schier unerschöpflichen Quell übermütig lustiger Situationen macht und den Blechkreisel zu immer mächtigeren Sprüngen anpeitscht, ihn bald die Wände hinauf, bald gar an der Decke tanzen läßt. Herr- Joseph Jarno, der bekannte Schauspieler und Mitverfasser mehrerer Lautenbnrgpossen, der nun auch einmal allein die Ehren des Abends ernten wollte, hätte gut gethan, diese Pariser Klein- und Feinkunst gründlicher zu studieren, als sich in seinen „Momentaufnahmen" verrät. Es sollen darin mit französischem Witz und Berliner Realistentechnik die Erlebnisse eines jungen, erfolggekrönten Bühnenschriftstellers geschildert werden, den besonders die heiratslustige Weiblichkeit zu ergattern sucht. Allein die „Momentausnahmen" entbehren bei aller karikierenden Schärfe der künstlerischen Ausführung, und man findet den Zusammenhang zwischen den rasch vorbeihuschenden Bildern nur schwer oder gar nicht heraus. Das ganze Stück bleibt in: Skizzenhaften stecken.
Zur Signatur des Berliner Theatersommers gehören von jeher die Gastspiele und Virtuosendarbietungen, und danach zu schließen müssen wir uns schon sehr lange des Sommers erfreuen. Herr Engels, der prächtige Komiker, den leider keine von den großen hauptstädtischen Bühnen ihrem Ensemble einzuverleiben klug genug war, gastierte im Goethe-Theater mit dem langatmigen Schauspiel „Onkel Bönkost" eines Herrn Sabinus, der im bürgerlichen Leben Reicke heißt und Konsistorialrat ist. Dieser Onkel Bönkost, der in einem verlotterten Hause Ordnung schasst, den sittlichen und materiellen Untergang von den Bewohnern abwehrt und dafür schließlich den Lohn der Welt erntet, sollte Herrn Engels als Unterlage zn einem zweiten Kollegen Crampton dienen; es wurde aber ein verpfuschter und verzerrter Onkel Bräsig daraus. Der Künstler konnte das mißratene Kind konsiftorialrätlicher Laune beim besten Willen nicht retten. Während er es nicht verschmähte, seine gediegene komische Kraft an verstaubte Jammerrollen, wie den Lerchenschwamm in den Mottenburgern, zu verschwenden, wagte sein Kollege Thomas den Sprung von den Brettern, die die Theaterschneiderei und eine Wadenausstellung bedeuten, auf die der Königlichen Bühne. Er gefiel der Leitung dieses Kunsttempels ungemein, und sie engagierte ihn aus mehrere Jahre. Gottlob, der Geschmack ist verschieden. — Neben den Komikern verdient die Heroine Erwähnung und Würdigung, wenn das lachlustige Berliner- tum ihr auch in minder Hellen Haufen zugeströmt ist und sie unverkennbar kühler behandelt. Adele Sandrock, die sich an der Wiener Hofburg nicht mehr so wohl wie ehe-
Ueber Land und Meer. Jll Okt.-Hefte. XIV. 12.
dem fühlt, spielte uns eine Maria Stuart vornehmsten Ranges und zeigte, wie man Friedrich Schiller und zugleich den an den modernen Menschendarsteller gerichteten Forderungen voll genügen kann. Wer die Künstlerin seit ihrem ersten, glücklosen Auftreten in Berlin aus den Augen verloren und ihre Wiener Wander- und Meisterjahre nicht freundwillig verfolgt hat, der durfte mit Recht erstaunt sein über die frühe und goldene Reife ihres Talentes, die von der Burgtheaterdeklamation nur wenig angekränkelt ist. Berlins Schauspielerinnen könnten in der Mehrzahl von ihr lernen , aber sie haben jetzt mit der Auswahl des Schühzeuges für die Badereise zn thun.
Von wenigen, nicht eben taghellen Lichtpunkten abgesehen, die dazu noch fast ausnahmslos auf dem Gebiete der Darstellung schimmern, geht das Spieljahr in Dämmerung zu Ende, wie es in Dämmerung begann. Die Dramatiker, auf denen die Hoffnung des modernen deutschen Theaters ruht, haben bis auf Sudermann geschwiegen; hochgespannte Erwartungen, die unbändige und unvornehme Reklame hinsichtlich der Leistungen jüngerer Schriftsteller erweckt hatte, sind grausam enttäuscht worden. Frau Rosmer-Bernsteins stillose und erkünstelte Märchendichtung „Königskinder", Hirschfelds völliger Zusammenbruch mit seiner „Agnes Jordan", Max Halbes vergebliches Ringen, in der „Mutter Erde" den sieghaften Ton der „Jugend" wiederzufinden — alle diese halben und ganzen Niederlagen geben zusammengestellt eine trostlose kritische Bilanz. Dürste man den Posauneu- stößen trauen, die jetzt wieder in gemessenen Zwischenräumen zukunstsfroh durch die Zeitungsspalten dröhnen, dann wetzt das kommende Jahr allerdings die Scharte, die sein Vorgünger der deutschen Bühnenkunst beigebracht hat, zur Genüge wieder aus. Sudermann wird mit zwei Dramen, darunter eine Märchendichtung, auf dem Plan erscheinen — überhaupt werden Märchendichtungen die schwere Menge angekündigt. Von Hauptmann melden uns gewissenhafte
Reporter, daß er soeben die vierte Scene des dritten Aufzugs seines neuen Schauspieles beendet habe; der Tag, an dem er sie ins Reine zn schreiben gedenkt, wird wahrscheinlich durch ein Kabeltelegramm aller Welt kundgemacht werden. Auch Wildenbruch hat seiner Stammbühne eine Historie zugesagt. Die Saat schießt also recht wacker in die Halme, und die Herren Direktoren, deren Zahl sich abermals um zwei oder drei vermehrt, versprechen in ihrer Gottähnlichkeit jetzt schon den Kunstfreunden brechend volle Scheuern. Möge es ihnen nicht ebenso gehen wie
dem wackeren Schulzen von Tripstrill, der gelegentlich gleich ihnen dem lieben Gott ins Handwerk pfuschte und an seiner Stelle das Wetter machte. Regen und Sonnenschein verteilte er gut; als jedoch der Herbst kam, da waren alle Aehren taub, denn der Schulze hatte den Wind vergessen. Und über die herrschende Windrichtung, den Geschmack von 1898,99, sind sich die Theatergelehrten noch keineswegs einig. Richard Nordhausen.
(Löward Vell'amy 7.
MIor etwas mehr als zehn Jahren erschien in Boston ein Buch mäßigen Umfangs, dem ein ungewöhnlich großer Erfolg beschieden sein sollte. Das Buch nannte sich „Ein Rückblick aus dem Jahr 2000" („Uoolling bnollcvarä 2000") und wies als Namen des Verfassers den Edward Bellamys auf. Kein Neuling in der Litteratur, aber einem verhältnismäßig nur eng begrenzten Kreise bekannt, wurde der damals etwa achtunddreißig Jahre zählende Bellamy über Nacht eine Tagesgröße ersten Ranges. Sein Buch erlebte Auflage auf Auslage, es wurde in fast alle Sprachen übersetzt und erregte allenthalben die Gemüter aus das lebhafteste. Der glückliche Autor ruhte längere Zeit, bis er vor etwa Jahres-
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