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Uelier Land und Kleer.
frist seinem „Rückblick" eine Fortsetzung gab, den Roman „Gleichheit" , in deutscher Übersetzung bei der
Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart erschienen). Den damit errungenen neuen Erfolg sollte er nur kurze Zeit überleben; am 23. Mai übermittelte uns das transatlantische Kabel die Nachricht von seinem tags zuvor nach längerem Leiden in New Hort erfolgten Tode.
Mit Edward Bellamy ist jedenfalls eine schriftstellerische Begabung von seltener Befähigung und fesselnder Eigenart dahingegangen. Die beiden Hauptwerke seines Lebens, der „Rückblick" und dessen Ergänzung „Gleichheit", sind der Form nach dem litterarischen Genre der „Utopien" zn- zuzählen, das heißt jenen Schilderungen idealer Staatsverhältnisse, die von Thomas Morus' „Utopia" ihren Namen erhalten haben, eigentlich aber aus Platons „Republik"
zurückgehen und nach Morus in Bacons „Neuer Atlantis"
und Campanellas „Sonnenstaat" ihren Typus gefunden haben. Ihrem Wesen nach sind beide Werke als sozialpolitische Tendenzschriften aufgefaßt worden, und nicht mit Unrecht. Haben doch in dem Heimatlands des
Verfassers die von ihm in seinem „Rückblick" ent
wickelten staatswirtschaftlichen Anschauungen in den Kolonisationsversuchen des weitverzweigten Bundes der „Nationalisten" eine praktische Anwendung gefunden, und wenn diese, wie das in der Natur aller derartigen Experimente liegt, auch nicht sonderlich erfolgreich verlaufen ist, hat sie doch zu Erscheinungen interessanter Art geführt und jedenfalls dargethan, daß die Ideen Bellamys nicht ganz und gar „utopistisch" sind.
Als der Urheber des „Rückblicks" die erste Anregung zu diesem Werke schöpfte, mochte ihn wohl der Reiz des Paradoxen locken; er hatte es stets geliebt, abseits vom Wege liegende Probleme zu behandeln, wie er das hervorragend unter andern: in der auch in das Deutsche übersetzten, etwas krausen, halb spiritistisch und halb antispiritistisch angehauchten Erzählung „Miß Sudingtons Schwester" gethan. Bei der näheren Ausgestaltung seiner Idee ist er sich aber jedenfalls der dem Werke zu verleihenden sozialpolitischen Tragweite bewußt geworden. Wie bekannt, schildert uns Bellamy in seinem „Rückblick", seiner Zeit vorgreifend, die Verstaatlichung der gesamten Gütererzeugung aus einem weiten Landgebiete, dem der Vereinigten Staaten, im Jahre 2000 unsrer Zeitrechnung. Sein Grundgedanke dabei ist, daß jeder Angehörige des von ihm gedachten idealen Staatswesens zur Ableistung einer Arbeitspflicht verbunden ist, die etwa der „allgemeinen Wehrpflicht" entspricht. Ob dieser Gedanke sich je verwirklichen läßt, mag dahingestellt bleiben. Thatsache ist, daß er von Bellamy in einer außerordentlich geistvollen Weise mit einer geradezu glänzenden Kraft der Darstellung zur Anschauung gebracht worden ist. Auch läßt sich nicht leugnen, daß sich in ihm ein gutes Teil dessen birgt, was die sozialpolitischen Strebungen unsrer Zeit Gutes an sich
haben. Wenn die Bellamyschen Darlegungen, die in dem erwähnten Punkt originell sind, sich sonst aber vielfach an den großen deutschen Staatssozialisten Rodbertus anlehnen, von den Sozialisten strenger Observanz und namentlich der Marxschen Schule angefeindet worden sind, liegt das auf einem andern Gebiete, auf dem der parteipolitischen Taktik. Bellamy verleiht nämlich seinem Arbeitsstaate nicht eine demokratische Grundlage, wie sie von der Mehrzahl der heutigen Sozialisten gefordert wird, sondern eine aristokratische: in seinem Zukunftsstaate herrscht nicht das bedingungslose und allgemeine, sondern ähnlich wie in der Hierarchie der katholischen Kirche das bedingte und beschränkte Wahlrecht. Um zur Leitung der Staatsgeschäfte zu gelangen, ist die Erreichung einer verhältnismäßig sehr hoch hinaufgerückten Altersgrenze erforderlich. Ob das richtig oder unrichtig, bedingt-richtig oder halb-richtig und halbunrichtig ist, bleibt für die Wertschätzung der beiden
Bellamyschen sozialpolitischen Romane außer Betracht; ihr Urheber hat keine Lehrbücher schreiben, sondern, wenn auch unter Streifung ernster wissenschaftlicher Fragen, Kunstwerke schaffen wollen, und das ist ihm jedenfalls gelungen. Mag gegen die künstlerische Form derselben manches einzuwenden sein, so lebt doch in ihnen eine dichterische Phantasie und eine Erfindungskraft, die ebenso bewundernswert sind wie der in ihnen entfaltete Scharfsinn und der sie durchwehende wohlthuende Zug der Menschenliebe und des Idealismus. Hierdurch unterscheiden sich die Schöpfungen Bellamys von fast allen Werken ähnlicher Art.
Ueber den Lebenslauf des verstorbenen amerikanischen Schriftstellers ist wenig zu sagen. Edward Bellamy wurde am 29.März / 1850 in Chicoper Falls in
^ Massachusetts geboren. Er
studierte an: Union College zu New-Pork sowie in Deutschland Jurisprudenz und Nationalökonomie, wurde dann in New Port zur Advokatenpraxis zngelassen, wandte sich aber bald der litterarischen Thätigkeit zu, und zwar zunächst der Journalistik. Von 1871—72 gehörte er zu dem Redaktionsstabe der New Parker „Evening Post" und schrieb dann mehrere Jahre hindurch Leitartikel und litterarische Kritiken für die „Springfield Union". Zur Wiederherstellung seiner inzwischen stark angegriffenen Gesundheit nahm er 1876 einen längereil Aufenthalt auf den Sandwichinseln, kehrte im folgenden Jahre zur Journalistik zurück, der er jedoch kurz nachher für immer entsagte, um sich freier litterarischer Thätigkeit zu widmen. Er veröffentlichte mehrere größere und kleinere Erzählungen, ohne jedoch, wie schon angedeutet, einen größeren Leserkreis für sich zu gewinnen, bis ihm im Jahre 1888 mit seinem „Rückblick" der große Wurf gelang. L. H.
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