I. Der ursprüngliche Nietzsche.
früheren Geschlechtern richtige Diagnosen nicht erwarten. Urtheile von Aerzten liegen in der Regel nicht vor, aber auch sie würden nur mit sehr grosser Vorsicht verwerthet werden können. Biographische Aufzeichnungen, die überhaupt nur den irgendwie hervorragenden Personen, weiblichen Personen fast nie gewidmet werden, pflegen sich nicht durch ärztlichsachverständiges Urtheil auszuzeichnen. Bald hat das „Gemüth“ die Feder geführt, bald hat die Auffassung des theologischen, philologischen oder sonstwie ausgezeichneten Verfassers das Ganze beeinflusst. Fast immer ist man auf die„Tradition“, die mündlichen Ueberlieferungen, die zu den gerade noch lebenden Familiengliedern gelangt sind, angewiesen, d. h. man erfährt nur, was die Familie einem sagen kann und will. Angenommen, der Wille wäre gut, so ist doch die Tradition ihrer Natur nach höchst mangelhaft und trügerisch. Weniges merken sich die Menschen, und das Wenige verändert sich in ihrer Erinnerung. Aber auch der Wille ist selten in unserem Sinne gut, auch die besten Menschen können sich Vorurtheilen nicht entziehen, ja man kann von ihnen nicht einmal verlangen, dass sie allgemein herrschenden Vorurtheilen, von denen in gewissem Grade ihr Wohlbefinden abhängt, entgegentreten. Jeder erzählt lieber von gesunden als von kranken Angehörigen, am wenigsten aber mögen die Menschen etwas von Nerven- oder Geisteskrankheiten in der Familie verlauten lassen. Man mag entgegenhalten, dass Krankheit keine Schande sei; die Leute werden nicht mit Unrecht antworten: Schande