Issue 
(1956) 11
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Solange der Wind weht und der Hahn kräht war in ihrem Sprachschatz eine häufig gebrauchte Redewendung.

Zwei Menschenalter stand unser Hahn auf höchster Warte. Geschlechter sah er kommen und gehen. Die Häusermassen zu seinen Füßen verjüngten sich, das Straßennetz dehnte s'ch im Laufe der Zeiten. Was immer geschah in der Stadt und auf den Feldern und Wiesen ringsum, er hat es gesehen, soweit nicht rote Ziegeldächer oder grüne Baumkronen seinem Einblick wehrten. Wann immer die Glocken unter ihm riefen, sah er die Bürger bald spärlich, bald in Scharen zur Kirche kommen und wieder heimwärts gehen. An den Markttagen sah er die Planwagen der Bauern in d e Stadt kommen und die Händler ihre Stände und Buden auf dem Marktplatz auf- schlagen. Hier erlebte er die Feste der Bürgerschaft: die Umzüge der Schulen und Vereine, der Feuerwehr, der Schützen, Turner und Sänger, die Paraden der Ulanen und Artilleristen. Ihn ergötzte die Menge der allzeit Schaulustigen, das Gewimmel buntgekleideter Bürgerfrauen und -mädchen, das Gewoge feierlich-steifer Zylinderhüte. Er hörte den Klang der Musikkapellen, vielhundertstimmigen Gesang und die Ansprachen begeisterter oder beklommener Festredner. Durch die Zweige der nun vom Sturm gestürzten Friedenseiche blickte er auf die im Rathaus versammel­ten Stadtväter, die manchen guten Beschluß faßten, aber dann und je auch Kirchturmpolitik trieben. Er schwieg stets, alles erlebte er in stoischer Ruhe, gutes und böses Menschenwerk. In hellen Nächten mag er mit dem lieben Mond herniedergeschaut haben auf manches heimliche Tun in ver­riegelten Giebelstübchen und Dachkämmerlein. Er war ein stummer Zeuge aller Menschlichkeit. Seinetwegen konnte auch ein schlechtes Gewissen unbesorgt sein ob verübter Missetat und sich gar wohl dabei beruhigen: es kräht kein Hahn danach.

Aber näher als die Menschen da unten waren ihm die Lebensgefährten in der Höhe, seine schwarzen Vettern vom Kirchturm, die Dohlen, und der Wind, das himmlische Kind. Sein Leben lang haben ihm jene arg zugesetzt, gefoppt, bekrächzt haben sie ihn und Huckepack mit ihm gespielt. Geduldig lTeß er es geschehn, der gutmütige alte Gockel. Geduldig folgte er jeder Laune der unsteten Winde. Hart strichen die Stürme an seinem ehernen Leib vorbei; er wandte sich, wie sie wollten, aber unverrückbar stemmte er sich ihnen entgegen. Wohl zauste ein Sturm ihm einmal einen Feder- Cmsch aus seinem metallenen Kleid, aber er selbst wich und wankte nicht. So stand er, fest und unterschütterlich, ein redlicher Hüter der Stadt und der Stolz ihrer Bürger.

*

Der 2 7. November 1916. Totensonntag ist gewesen. In die blau­graue Morgendämmerung des folgenden Tages flackert einer Riesenfackel gleich der brennende Kirchturm von St. Jakobi über der aufgeregten Stadt. Unerkannt ist der Rote Hahn über ihn gekommen, machtvoll zwängt er sich

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