Heft 
(1956) 7
Seite
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Was hier mit kurzen Worten aufgezeigt wurde ist der Anfang einer Um­wälzung aller bestehenden Rangordnungen unter den Städten der Prignitz, die durch das Auftreten von Industrie und Eisenbahn zur Revolution wird. Es scheint, als habe der damalige Bürgermeister Anton eine seherische Fähigkeit gehabt, als er in einem Bericht, geschrieben in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, in überschwänglicher Weise die Bedeutung der ersten Industrieanlage, der Oelmühle, in Wittenberge für die gesamte Landschaft, darstellt. In der Zeit von 1845 bis 1851 bekam Wittenberge die Eisenbahnverbindung nach Berlin und Hamburg und nach dem Bau der Elbbrücke die nach Magdeburg. Damit löste die Stadt Wittenberge Perle­berg in seiner verkehrsgeographischen Bedeutung ab. Was nutzte jetzt den Perlebergern der 1838 fertiggestellte Bau der Chaussee BerlinHamburg mit seiner regelmäßig zweimal mit doppelter Reisegeschwindigkeit ver­kehrenden Post? Die Warenbeförderung per Schiene war von vornherein billiger. Entscheidend für die wirtschaftliche Bedeutung waren jetzt nicht mehr die Entfernungen schlechthin, entscheidend war lediglich die Ent­fernung von der nächsten Bahnstation. Orte ohne Eisenbahnverbindung mußten auf Grund der teuren Gespannfrachten im beginnenden Wirt­schaftskampf des 19. Jahrhunderts von vornherein unterliegen. Das spürte ganz besonders die Landwirtschaft der Prignitz, die mit den in Berlin gebildeten Preisen durch hohe Transportkosten nicht Schritt halten konnte und verarmte. Schon die Einstellung der Postbeförderung per Straße nach dem Bau der Eisenbahnlinien brachte für Wusterhausen, Kyritz und Per­leberg große Einbußen an Einnahmen. Die Versorgung der Postreisenden und die Unterhaltung der Postgespanne fiel fort. Die Verarmung des Grundbesitzes verschlechterte die Geschäftslage der Marktorte und man kam zu der Erkenntnis, daß man die Abneigung gegen Eisenbahnen nur aufrecht erhalten könnte, wenn man gewillt war, wirtschaftlichen Selbst­mord zu begehen. Perleberg kam zuerst im Jahre 1881 zu dieser Erkennt­nis. Wie hatten sich aber auch schon die Verhältnisse zwischen beiden Städten verschoben: 1800, Wittenberge hatte 884 und Perleberg 2500 Ein­wohner; 1885, Wittenberge hatte 10 800 und Perleberg 7 636 Einwohner. Wittenberge hatte zu der Zeit schon die Bedeutung eines Verkehrsknoten­punktes mit Bahnverbindungen nach Hamburg, Berlin, Magdeburg und Lüneburg erlangt. Neben der Oelmühle waren die Naylorsche Tuchfabrik, eine Reihe von Speditionsfirmen, die Fett- und Oelfabrik der Gebrüder Krause und nicht zuletzt die Eisenbahnwerkstätten nach hier gekommen, und noch war kein Ende dieser stets aufwärts weisenden Entwicklung abzusehen.

Perleberg erkennt als erste Prignitzer Stadt den Nachteil, den die fehlende Eisenbahnlinie mit sich brachte. Schon 1864 und erneut 1870 versuchten daher die Perleberger, Wittstock und Pritzwalk für eine Bahnverbindung WittenbergeNeustrelitz über die genannten Städte zu begeistern. Beide

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