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Weber -Land und Meer.
gesund, gul und glücklich von Jugend auf zu machen, das ist leider, au dein gemessen, was Zola von ihm erwartet, nur ein lächerliches Spielzeug, ein so lächerliches, daß der Leser, der den Roman mit vielfach brennendem Interesse gelesen hat, sich bei diesem Schlußfeuerwerk unwillkürlich fragt, ob denn der Verfasser wirklich habe glauben können, daß man ihn hier noch ernst nehmen werde. Dieses Arkanum ist nämlich „der kleine Motor" — der kleine Motor am Zweirad, die Ueberwindung der technischen Schwierigkeit, die sich bisher noch dem Problem entgegengestellt hat, die Zweiräder mit einer genügend leichten und genügend kräftigen Triebkraft, die das Treten des Pedals ersetzt, auszustatten. Wenn man nicht bereits wüßte, daß Zola ein passionierter Radler ist, würde man's aus diesem Schluß seines Romans „Paris" mit untrüglicher Sicherheit entnehmen können. Zola verdankt, wie viele Menschen, dem Radeln besseren Schlaf, besseren Appetit, ein gesteigertes Arbeiten aller Lebenskräfte — infolgedessen ein Wohlbefinden und eine Freude am Dasein, die ihm fremd waren, bevor er sich mit dem Stahlroß anfreundete. Allen Leuten, die an eine sitzende Lebensweise gewöhnt und viel Zimmerluft zu atmen genötigt sind, geht es so, daß sie ein neues Leben zu leben meinen, wenn sie sich täglich auf dem Fahrrade ordentlich durcharbeiten. Sie werden gewiß auch besser davon, scheinbar wenigstens, weil ihre nervöse Reizbarkeit abnimmt. Aber zu dem allen ist das Rad nicht absolut notwendig: eine Stunde Holzhacken thut ganz dieselben Dienste. Der Unterschied ist nur der, daß das Radeln gleichzeitig .ein Vergnügen ist, das Holzhacken nur eine Arbeit. Aber Menschen mit guten und bösen Eigenschaften wie andre bleiben Holzhacker und Radler deshalb doch I Und nun vollends, wenn erst Zolas „kleiner Motor" erfunden sein wird! Er wäre ein Unglück, dieser kleine Motor! Die Radler würden sich faul auf das Rad setzen, faul durch die Welt fliegen und faul und mit trägem Blut wieder zu Hause ankommen. Sie würden nichts von jener köstlichen Anstrengung empfinden, mit der man jetzt die Kilometer frißt, nichts von jener köstlichen Müdigkeit, mit der man jetzt nach einer längeren Tour wieder zu Hause aulangt, nichts von jenem kräftigen Pulsieren des Blutes, bei dem mau sich heute vorkommt, als wäre man plötzlich eine Riese geworden, nichts von jenem köstlichen Hunger und Durst nach den einfachsten und besten Nahrungsmitteln, nach Brot und Milch. Der „kleine Motor" würde auch das Beste vernichten, was sich im Gefolge des Radelns einstellt — die Abneigung gegen alle alkoholischen Getränke, und die Radler würden wieder zur Erwärmung trinken wie die Fuhrleute, während sie jetzt nur gegen den Durst und zur Abkühlung trinken, wozu sie den Alkohol nicht ^ brauchen können. Aber Zola glaubt von der Erfindung dieses „kleinen Motors" eine neue Epoche der Weltgeschichte datieren zu können. Daß er's ernstlich glaubt, werden ihm die wenigsten Leser glauben. Wahrscheinlich ist es ihm auch nur daruin zu thun gewesen, seine zwei Götter, ^ Wissenschaft und Arbeit, am Schluß des Bandes eine That ^ thun zu lassen, um ihre gar nicht abzuleugnende Wirksam- > keit im Dienste des Fortschrittes so recht aä oeulo8 zu demonstrieren. Realist, der er ist, verfiel er auf den kleinen ^ Motor, dessen Erfindung in der Luft liegt — eigentlich ist ^ er schon erfunden, nur daß die mit ihm ausgestatteten Räder ^ so schwerfällig sind, daß kein Mensch mit gesunden Beinen sie dein Tretrad vorziehen wird. Aber der Gedanke war ^ sehr unglücklich, weil dieser kleine Motor alle gesundheit- uud also glückfördernden Eigenschaften des Fahrrades wieder , aufheben wird. — Natürlich glaubt Zola an seine neue ^ religionslose Religion; aber den Beweis für die von ihm , geweissagte goldene Zukunft bleibt er selbst in seinem Ro- ^ man schuldig. Mehr noch, er liefert in seinem Roman ! sogar den Gegenbeweis. Denn wohl wird der Abbs Fro- I
ment ein Glücklicher, als er den Priesterrock auszieht, ein Arbeiter im Dienste seines Bruders wird, in seinen Mußestunden mit der Braut seines Bruders radelt und von aller Religion nichts mehr wissen will. Er ißt wieder mit Appetit, fühlt sich von keinen religiösen Skrupeln mehr beunruhigt, heiratet die Braut seines Bruders, in die er sich verliebt und die seine Liebe erwidert, und allem Anschein nach wird er der Vater einer zahlreichen Familie werden. Aber das Glück, das er sich gewinnt, ist doch eigentlich das Glück seines Bruders, und er erkauft es nur durch den Verzicht des Bruders, dem dieser Verzicht nicht leicht wird. Und mit einem solchen Verzicht sollte ein Roman nicht schließen, der von einer goldenen Zukunft predigt, in der kein Mensch mehr genötigt sein wird, auf irgend etwas zu verzichten, und der es der christlichen Lehre zum schlimmsten Vorwurf macht, daß sie die Menschen für alle Verzichte, die das Diesseits fordert, auf das Jenseits vertröstet. Ter reine Materialismus ist ja zweifellos eine sehr bequeme Anschauung, aber Hungrige macht sie nicht satt, und Traurige tröstet sie nicht. Uebrigeus glaube ich nicht, daß Zolas Romane deshalb gelesen werden, weil dis Weltanschauung des Verfassers die Leute interessiert, sondern weil er als Sittenschilderer seinesgleichen nicht hat. Als solcher zeigt er sich auch in seinem neuesten Roman „Paris", trotzdem er sich hier auf einem schon so viel von ihm beackerten Boden bewegt, daß er eigentlich nicht viel Neues zu sagen hat. Nur scheint mir Zola in seiner Schilderung von Paris noch einseitiger geworden zu sein als früher, und jedenfalls einseitiger, als es eine objektive Behandlung des Stoffes zugelasfen hätte. Daß die Franzosen diesen Roman weniger kaufen als frühere Romane, und daß er mehr im Ausland gelesen wird als frühere, erklärt sich aus dem Roman selbst; Zolas Stellungnahme in der Dreyfusasfaire wird damit nicht viel zu thun haben. Sehr erhebend kann es aus einen Franzosen nicht wirken, wenn er diese Schilderung von Paris liest, aus der man entnehmen könnte, daß Paris, im Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang vom Montmartre aus gesehen, einem den Eindruck einer ganz hübschen Stadt vortäuscht. Aber wehe dem, der herniedersteigt! Am wunderlichsten verhält sich Zola der französischen Kunst gegenüber, an der er gar nicht vorbei konnte, wenn er Paris schildern wollte. Der ellut noir und eine jener Damen, die auch Theater spielen, — das ist alles, was Zola von Pariser Kunst kennt oder von ihr schildert. Die letztere hat natürlich gar nichts mit Kunst zu thun, sie dient Zola nur dazu, um das Re- gierungssystem zu persiflieren, und diese Persiflage, so treffend sie sein mag, wird den meisten Franzosen auch nicht angenehme Lektüre sein. Es ließe sich sonst wenigstens nicht recht erklären, daß es immer noch Republikaner in Frankreich giebt. Und wenn die Franzosen nicht viel Verständnis für Zolas sentimentale Anarchistenwäsche haben, die er in seinem „Paris" vornimmt, so ist das auch begreiflich.
„Geschichten eines Verstorbenen" (Stuttgart, Verlag von Adolf Bonz L Comp.) nennt Carl Weitab recht drei Novellen, von denen er im Vorwort sagt, daß er sie nicht selbst erdacht, sondern sie einem verstorbenen Freunde nacherzähle. Und Weitbrecht meint, leider hätte dieser Freund, der ein ausgezeichneter Erzähler gewesen, diese Geschichten nicht selbst geschrieben. Wer weiß, ob das „leider" berechtigt ist. Ich habe wenigstens mehrfach die Erfahrung gemacht, daß die besten Erzähler total versagen, sobald sie ihre Erzählungen mit der Feder festzuhalteu versuchen. Man kann da die merkwürdigsten Dinge erleben. Einen der genußreichsten Abende, deren ich mich erinnere, verdanke ich einem Freunde, den ich jahrelang nicht- gesehen, der während dieser Jahre ein ziemlich unstetes Dasein geführt und viel zu erzählen hatte, als wir uns wieder-