Neues vom Wüchertisch.
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sahen. Lauter Thatsachen, so daß er seine Phantasie gar nicht anzustrengen brauchte. Und weil er das so schlicht und ohne alle Zuthaten und trotzdem so unerhört anschaulich und wirkungsvoll erzählte, war ich trotz einiger abschreckender Erfahrungen leichtsinnig und sagte ihm: „Wenn Sie mir das alles so niederschreiben, wie Sie's heute erzählt haben, garantiere ich Ihnen ein anständiges Honorar und einen litterarischen Erfolg." Er war sehr froh darüber und machte sich an die Arbeit. Als er mir dann sein Manuskript brachte, war ich, nachdem ich nur wenige Seiten gelesen, in der größten Verlegenheit. Denn mir war unbedingt klar, daß das, was da sauber geschrieben stand, keinen Menschen interessieren würde, trotzdem es beinahe oder vielleicht ganz dasselbe war, was der Verfasser an jenem Abend erzählt hatte. Nur die Lichter fehlten, die Stimme, Mienenspiel und Gesten eines guten Erzählers der Erzählung aufsetzen, ohne daß er selbst davon weiß, und ohne diese Lichter ist alles Erzählte nur trockener Stoff. Wahrscheinlich war's gut, daß der Verstorbene „alles Schreiben haßte wie die Sünde und das Schreiben von Geschichten als eine der sieben Todsünden unsers Jahrhunderts. Er war der unumstößlichen Ueberzeugung, eine rechte Geschichte könne nur mündlich erzählt werden — sowie sie geschrieben oder gedruckt sei, sei sie verhunzt." Ein so radikaler Verächter der erzählenden Litteratur hätte wahrscheinlich auch über die Weitbrechtschen Nacherzählungen seiner eignen Erzählungen die Nase gerümpft, trotzdem er in dem Verfasser doch etwas wie einen berufenen Erben gesehen haben muß. Weitbrecht erzählt von dem originellen alten Herrn: „Einmal in einer- schwachen Stunde hat er mir die Erlaubnis gegeben, wenn er einst tot sei, einige seiner Geschichten aufzuschreiben — vorher nicht. Ich könne es ja doch nicht, fügte er bei. Als es aber wirklich mit ihm znm Sterben ging, stand ich an seinem Bette und nahm gerührten Abschied von ihm. Ans Aufschreiben seiner Geschichten dachte ich in diesem Augenblick nicht. Er aber, der immer auch im geringsten Wort zu halten gewohnt war, erinnerte mich selbst daran, indem er sagte: .So, ja — gelt, jetzt muß ich sterben, und dann schreibst du meine Geschichten auf, du Seeräuber ll und damit drückte er mir noch einmal die Hand, legte sich aus die andre Seite und starb." Man sieht, daß der alte Herr ein Original war, und originell sind auch seine Erzählungen — von denen ich allerdings überzeugt bin, daß sie in der Form, in der sie hier vorliegen, mehr das Eigentum Carl Weitbrechts als das des Verstorbenen sind. Denn Weitbrecht hat ihnen das gegeben, wovon der Verstorbene meinte, daß es jede Erzählung durchs Niedergeschrieben- oder gar Gedrucktwerden verlieren müsse — das unmittelbar Wirkende. Nur der zweiten Erzählung „Eine Hühneraugenoperation" fehlt meiner Meinung nach der Dialekt, den der Verstorbene hier ganz sicher zur Steigerung der Wirkung angewandt hat. Das könnte eine echte schwäbische Humoreske sei'n, mit der jeder Vorleser, der den Dialekt beherrscht, seines Erfolges unbedingt sicher wäre. Tiefere Fragen als die Rivalität zwischen Wein und Bier behandelt die erste Novelle „Der Dieb" und die dritte „Der zerrissene Kirchenrock". In beiden kommt die feine satirische Ader, die Carl Weitbrecht ganz eigentümlich ist, stark zum Durchbruch, besonders in der letzten, in der ein junger protestantischer Geistlicher sein Amt niederlegt, weil seine Ueberzeugungen sich nicht mehr mit denen der schwäbischen Orthodoxie — es soll auch in Schwaben eine solche geben — in Einklang bringen lassen. Aber sehr im Widerspruch zu dieser feinen satirischen Ader hat der Druckfehlerteufel einem wichtigen Satz in dieser Novelle durch Aenderung eines Buchstabens einen ganz andern Sinn untergeschoben. Es heißt da nämlich von dein jungen Pfarrer, der am Scheidewege steht: „Was hatte er eigentlich mit dem ganzen Verstellnngskreise noch gemein, aus
dem heraus der Herr Prälat ihm so väterlich wohlwollend zusprechen durfte?" Da hat Carl Weitbrecht natürlich nicht „Verstellungskreis" geschrieben, sondern „Vorstellungskreis". Freilich wird sich durch diese Erklärung mancher Prälat die Ueberzeugung nicht nehmen lassen, es habe in dieser Novelle nicht nur der Druckfehlerteufel sein Spiel getrieben.
Unter dem Titel „Mütter. Drei tragische Novellen" veröffentlichte Dora Duncker drei Erzählungen (Berlin, F. Fontane L Comp.), die allerdings den Begriff des Tragischen nicht ganz decken. Zwei Leichen in der ersten, drei in der zweiten und eine in der dritten Novelle, viere davon eines ganz und eine eines beinahe unnatürlichen Todes gestorben, bedingen noch nicht das Tragische, und mütterliches Empfinden ist nur das Motiv der ersten Novelle, die, wie die andern auch, indessen mehr den Charakter eines Senfationsstückes als den einer Novelle trägt. Notwendig sind die vielen Leichen nicht, noch weniger sind sie wahrscheinlich. Wenn es möglich sein kann, daß eine Mutter aus Liebe zu ihrem toten Sohne den Nachfolger desselben, das heißt den zweiten Gatten ihrer verwitweten Schwiegertochter, zu töten beschließt, so ist es doch nicht sehr wahrscheinlich, daß sie diesen Beschluß ausführen wird, nachdem sie erfahren hat, daß nicht nur der Verhaßte, sondern auch die Schwiegertochter, die Mutter ihres Enkels, gegen die sie gar nichts Besonderes hat, mit ihm umkommen muß. In der zweiten Novelle „Sturm" ist zum Schluß der Weg zum Standesamt nicht weiter als der Weg ins Wasser; er und sie wühlen den letzteren — was kann der Leser dabei thun? Am unwahrscheinlichsten ist die letzte Erzählung „Für ihr Kind", und trotzdem erscheint mir diese als die beste. Denn hier sind die Unwahrscheinlichkeiten nur äußerliche, während die psychologischen Vorgänge nichts Rätselhaftes oder zum Widerspruch Reizendes an sich haben. Die Gattin eines verkrachten Offiziers macht in dieser Erzählung von ihrer Gewandtheit mit der Feuerwaffe als Kunstschützin Gebrauch, um ihr Kind, ihren Mann, sich selbst vor dem vollständigen Untergang zu schützen. Psychologisch gar nicht unmöglich und sicher ein sogenannter interessanter Fall. Nur so, wie ihn Dora Duncker erzählt, ist er nicht möglich. So ohne weiteres, von heute auf morgen, kann der beste Schütze nicht als Kunstschütze auf der Spezialitätenbühne auftreten; ebensowenig wie ein guter Turner von heute auf morgen seine Turnerei zu einer Kunst, mit der man Geld verdient, machen kann. Das erfordert Vorbereitung, die Uebung des verblüffenden Trics. Und ebensowenig ist es denkbar, daß eine Dame wochenlang allabendlich in Berlin in einem Lokal wie etwa der Wintergarten als gefeierte Kunstschützin auftritt, und daß ihr Gatte, ein ehemaliger Berliner Garde- ofsizier, mit dein sie zusammen lebt, nichts davon erführt. Der Theatername deckt eine solche Dame nicht, von den Lieutenants in Zivil, die ein solches Lokal jeden Abend unter feinen Besuchern zählt, würde sie sicher erkannt werden, und ihr Geheimnis bliebe nicht vierundzwanzig Stunden gewahrt. Damit siele dann auch der „tragische" Schluß: Die Baronin von Werbitz erschießt ihren Mann, der ihr plötzlich auf der Bühne entgegentritt, um sie an der Ausübung ihres nach seiner Meinung schimpflichen Berufes zu hindern. Ob mit Absicht, ob aus Versehen, das läßt Dora Duncker zweifelhaft. Sehr spaßhaft ist es, wie sich Dora Duncker den Beginn der Laufbahn eines Herrenreiters denkt. Als Herrenreiter hat sich nämlich Herr von Werbitz ruiniert, und die Sache begann so. Eines Tages war er, wie schon häufig, als harmloser Zuschauer zum Rennen gefahren. „Einer der berühmtesten Sportsleute, der Reiter der Floßhilde, war plötzlich krank geworden. Der ganze Rennplatz war in größter Aufregung. Wer sollte das Tier steuern, auf das die höchsten Wetten ge-