Schlußbemerkungen
Im Unterschied zur Entwicklung in Westeuropa, bei der sich der Wandel der Sozialisationsbedingungen über Jahrzehnte hin vollzog, tritt der Wandel in den neuen Bundesländern Deutschlands und in Rußland in einer historisch sehr kurzen Zeitspanne auf, so daß er als Bruch erlebt werden konnte. Es wurde eine rasche Umstellung auf Anforderungen eines ehemals konkurrierenden Systems erforderlich. Selbständige Entscheidungen, die nicht mehr abgesichert sind, wurden zwingend notwendig. Erhebliche Frustrationen hinsichtlich einer gesicherten Zukunft traten auf. Dies traf viele Menschen unvorbereitet. Sozialisationserfahrungen, Copingstrategien, Abwehr- und Vorsorgepraktiken waren unbekannt sowohl für Jugendliche als auch deren Eltern und Erzieher. Dies alles führte nicht selten zu Unsicherheiten, zu Kontrollverlust, zu einer erhöhten Belastung.
Die Jugendstudie in Potsdam und St. Petersburg zum Erleben und zur Bewältigung alltäglicher Probleme bei jugendlichen Schülern ging von der Annahme aus, daß diese sozialökonomischen Umbrüche— wie sie in Ostdeutschland und Rußland Anfang der 90er Jahre erfolgten— die Jugendlichen in hohem Maße belasten und in Abhängigkeit von personalen und sozialen Ressourcen wie Selbstkonzept und Copingstrategien zu unterschiedlich produktiver Bewältigung der Probleme führen würden. Im Ergebnis ist unter kulturvergleichendem Aspekt festzuhalten:
1. Bei den Potsdamer Jugendlichen lag vergleichsweise zu denen aus St. Petersburg eine eher milde Problembelastung vor.
2. Die sich aus dem Erleben ergebende Rangreihe der Problembereiche ist offenbar abhängig von den vorliegenden soziokulturellen Bedingungen, die die ontogenetische Entwicklung determinieren. In den Problembereichen Schule, Eltern und Selbst traten signifikante Unterschiede in dem Sinne auf, daß die Belastung bei den St. Petersburger Jugendlichen höher war. Insbesondere der Bereich Eltern war von höherer Relevanz, was möglicherweise damit zusammenhängen kann, daß die Eltern der St. Petersburger Jugendlichen durch den Transformationsprozeß stärker belastet waren und entsprechend weniger Verständnis und Zuwendungsbereitschaft gegenüber ihren Kindern zeigten oder daß die seitens der Jugendlichen gestellten Ansprüche an die Eltern mit tradiierten Beziehungsmustern kollidierten. Eltern der Potsdamer Jugendlichen werden eher als Vertrauensperson und als unterstützende Partner wahrgenommen.
3. Der Bereich Zukunft wird unabhängig von Alter und den kulturellen Unterschieden insgesamt als der problembelastetste erlebt. Berufswahlunsicherheit, mangelnde Ausbildungsplätze, wachsende Umweltzerstörung belasten die Jugendlichen im Sinne von Zukunftsunsicherheit.
4. Die höhere Problembelastung russischer Jugendlicher ging vergleichsweise zu Potsdamer Jugendlichen einher mit einer geringeren Ausprägung problemlösender Strategien.
5. Die Jugendlichen Potsdams schätzten sich in allen Dimensionen des Selbstkonzepts besser ein als die Jugendlichen aus St. Petersburg. Möglicherweise orientierten Erziehungsziele und-strategien in Rußland weniger als in Deutschland auf Autonomie und Selbstverantwortlichkeit.
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