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"Kontinuität und Wandel der deutschen Führungsschicht : Ergebnisse der Potsdamer Elitestudie 1995" ; Zusammenstellung der Vorträge des Symposions vom 11. Oktober 1996 an der Universität Potsdam / Primärforscher: Wilhelm Bürklin
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MEHR STAAT IM OSTEN- WENIGER STAAT IM WESTEN: EINSTELLUNGEN ZUM UMFANG STAATLICHER VERANTWORTUNG Jörg Machatzke

Problemstellung

Die Zunahme staatlicher Verantwortung in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist eine konstante Begleiterscheinung der Entwicklung westeuropäischer Industrienationen. Besonders in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation wird jedoch immer wieder die Frage nach dem finanziell vertretbaren Umfang der Verantwortung des Staates gestellt. Im Mittelpunkt politischer Kontroversen steht neben traditionellen Aufgabenbereichen, wie der inneren und äusseren Sicherheit, dann insbesondere ein Bereich staatlichen Engagements: der Sozialstaat.

Mit Blick auf den für die Bundesrepublik immer wieder nachgewiesenen Grundkonsens in der Führungsschicht werden im folgenden drei Fragestellungen untersucht:(1) Lassen sich für die Eliten ostdeutscher und westdeutscher Herkunft unterschiedliche Einstellungen zum Umfang staatlicher Verantwortung nachweisen?(2) Wenn ja, stellt sich die Frage, welchen Einfluss diese Differenzen auf die Konsensfähigkeit der Eliten haben.(3) Wie verhalten sich die erwarteten Ost-West-Differenzen zu den traditionellen Konfliktlinien, an denen sich die politischen Parteien gebildet haben? Besteht die Möglichkeit, dass sich neben den traditionellen Interessengegensätzen ein weiterer Konflikt etabliert?

In den Ergebnissen der Untersuchungen zeigen sich Differenzen zwischen den Positionsinhabern ost­und westdeutscher Herkunft, die offenbar unterschiedliche Verständnisse der Funktion des Staates sowie des Umfanges seiner Aufgaben widerspiegeln. Wie ein roter Faden durchzieht die grosse Wichtigkeit, die ostdeutsche Eliten der Sicherung des Sozialstaates beimessen, alle Vergleichsdimensionen.

Relevanz der Fragestellung

Der deutsche Sozialstaat beruht heute zum einen auf weitreichenden sozialen Sicherungen und zum anderen auf umverteilenden Interventionen mit dem Ziel sozialer Gleichheit.

Die jüngste sozialpolitische Debatte geht auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung deralten Bundesrepublik zu Beginn der achtziger Jahre zurück. Mit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten und den damit verbundenen sozialpolitischen Massnahmen zur Dämpfung der Umbrüche in den neuen Bundesländern wurde die Diskussion über die Grenzen des Sozialstaates für kurze Zeit überdeckt; um so stärker lebt sie unter dem Eindruck wirtschaftlicher Probleme und knapper öffentlicher Kassen auf.

Die politischen Kontroversen beziehen sich auf den Umfang staatlicher Verantwortung im allgemeinen und auf die Reichweite des sozialen Engagements des Staates im besonderen. Ausgehend von der Frage, wie sich diese Divergenzen in den Wahrnehmungen und Einstellungen der deutschen Eliten widerspiegeln, ist zu untersuchen, ob die Differenzen, besonders zur Zukunft des Sozialstaates, derart sind, dass sie die in den vergangenen Jahrzehnten festgestellten engen Kooperationsbeziehungen(horizontale Integration) in der Führungsschicht beeinträchtigen (Dahrendorf 1965; Hoffmann-Lange 1992). Eine für den Grundkonsens fundamentale und für den Untersuchungsgegenstand zentrale Norm ist das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes.

Demokratie- und ordnungspolitische Orientierungen bilden sich vor dem Hintergrund objektiver Bedingungen heraus. Deshalb kann erwartet werden, dass die befragten Positionsinhaber in Ost- und Westdeutschland, auf Grund ihrer Sozialisation in unterschiedlichen politischen Systemen mit verschiedenen sozialen Konzepten, auch voneinander verschiedene Vorstellungen über den Umfang staatlicher Verantwortung und insbesondere des sozialstaatlichen Bereichs haben. Im Sinne des sozialistischen Staatsverständnisses von der umfassenden zentralen Steuerung gesellschaftlicher Prozesse waren Ssozialstaatliche Eingriffe auf alle Lebensbereiche ausgerichtet. Ziel war eine möglichst gleiche Verteilung gesellschaftlicher Güter und Ressourcen und die Sicherung eines Existenzminimums. In der Bundesrepublik richtet sich die Sozialpolitik dagegen an der Wahrung von Chancengleichheit und Ressourcenverteilung nach dem Leistungsprinzip aus. Mit einer Einkommensicherung bei Standardrisiken und umverteilenden Interventionen im Sinne sozialer Teilhaberechte sind wesentlich weniger Lebensbereiche einer staatlichen Regulierung unterworfen (vgl. u.a. Westle, 1994; Zapf, 1994; Roller, 1995; Rohrschneider, 1994).