Teil eines Werkes 
Bd. 5 (1904) Nietzsche : mit einem Titelbilde / von P. J. Möbius
Entstehung
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I. Der ursprüngliche Nietzsche.

erworben. Erst in der letzten Zeit meines Pförtner­Lebens gab ich, in richtiger Selbsterkenntniss, alle künstlerischen Lebenspläne auf; in die so entstandene Lücke trat von jetzt ab die Philologie. Wenn auch im weiteren Leben Ausübung der Musik und Kompo­sition immer mehr zurücktraten, so nahm das Interesse für die Musik doch nicht ab, ja in den Wagner-Jahren füllte es sein Leben zu einem guten Theile aus. Auch in den Jahren der Vereinsamung, als die Empfindlich­keit des Kopfes einerseits, die äusseren Verhältnisse andererseits ihn von der Musik abtrennten, gab er das Componiren nicht ganz auf. Noch 1887 zeigte er Deussen ein Requiem, das er für seine eigene Todten­feier componirt hatte. Es ist natürlich nicht mit Be­stimmtheit zu sagen, was Nietzsche erreicht hätte, wenn er sich der Musik ganz ergeben hätte. Den bisher bekannt gewordenen Compositionen Nietzsches scheinen die Musiker keinen Werth beizulegen. Aber auch bei bescheidener Schätzung wird man zugestehen, dass Nietzsches Musiktalent weit über den Durch­schnitt hinausragte.

Vielleicht noch früher als das musikalische er­wachte bei Nietzsche das dichterische Talent. Fassen wir den Begriff weit, so gehören dazu Freude an dichterischen Erzeugnissen und Verständniss dafür, Trieb, dichterische Phantasiegebilde zu ersinnen und sie entweder sprachlich zu fixiren oder durch Handeln lebendig zu machen, Trieb, eigentliche Gedichte zu ver­fassen, Verlangen zur Meisterung der Sprache über­haupt, zu reden, zu schreiben, Stilgefühl und Stiltalent.