2. Die Entwickelung der progressiven Paralyse.
Hass? Auch zu Voltaires Zeiten hasste man die Kirche, auch im achtzehnten Jahrhundert verfuhr man oft wie ein Rabulist, der dem Gegner gemeine Motive unterschiebt und nicht widerlegen, sondern herunterreissen will. Es fehlte damals den Leuten an historischem Sinne, und Nietzsche fehlte es auch daran. Besonders aber war damals der Kampf gegen die Kirche noch eine Gefahr. Jetzt ist die Sache ungefährlich, und deshalb versteht man eigentlich einen Hass gegen das Christenthum en bloc nicht recht. Dass Nietzsche, als ihn seine theoretischen Ansichten zu einem Gegner der christlichen Denkweise machten, sich nicht mit dem Versuche der. Widerlegung begnügte, sondern ein Feind der Christen wurde, ja die Leute hasste, die nach seiner Meinung vor ein paar tausend Jahren vermöge ihrer Krankhaftigkeit falsche Ansichten vertreten hatten, das ist eben nur unter der Voraussetzung einer„wüthigen Natur“ zu verstehen. Die Christen-Wuth ist alt, sie bestand schon in Basel, sie kam dann in den Ausfällen gegen den Parsifal zum Vorscheine, sie bewirkte, dass er in Genua kein Madonnenbild im Zimmer duldete. Um seinem Hasse eine gewisse Unterlage zu geben, musste er sich den Priester construiren, der nicht ein Verführter, sondern ein absichtlicher Verführer sei. Gesehen hat er natürlich solche Ungeheuer nicht, er brauchte sie aber, weil der einmal vorhandene Hass sich nicht am Unpersönlichen begnügte. Der Mensch kann eben nicht aus seiner Haut hinaus.‘ Nietzsche wollte ein lachender Löwe sein und war doch ein rachsüchtiger decadent, er wollte ein Arzt sein und war
Möbius, Werke V.