| II. Die Krankheit.
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sie es nicht, dann brauchte er sich nicht auf ein summarisches Gutachten zu beschränken. In Wirklichkeit aber vermag niemand das Geflecht im Innern des Kranken zu entwirren, wir bleiben, sobald wie die einzelnen Fäden verfolgt werden sollen, im Zweifel stecken und schliessen damit, dass es heisst, in dubio pro reo. Im Falle Nietzsche aber kommt noch folgende Erwägung hinzu. Es handelt sich hier um anstössige Stellen in Druckschriften, nicht um Thaten im engeren Sinne des Wortes. Jeder Mensch lässt sich zu Reden leichter hinreissen als etwa zu Schlägen, zu Eingriffen in fremdes Eigenthum und so weiter. Der Schriftsteller gar hat keinen persönlichen Gegner vor sich, er schreibt in der Stille für ein ihm unsichtbares Publikum, er führt ein Phantasieleben und wird beim Schreiben leicht eine Beute seiner Erregung. Unter diesen Verhältnissen versagen die Hemmungen eher als im täglichen praktischen Leben, wobei an die Thatsache zu erinnern ist, dass sich Geisteskranke bei Niederschriften viel leichter gehen lassen, ihre sonst geheim gehaltenen Gedanken leichter verrathen, als im Gespräche. Es bleibt also dabei, dass vor dem Richterstuhle die Schriftstellen, durch die Nietzsche nach 1881 Anstoss erregt hat, ihm nicht zugerechnet werden können.
Ein Anderer mag fragen, in wie fern durch die Gehirnkrankheit die Schriften Nietzsches an Werth verloren haben. Man kann da unterscheiden den dichterischen, allgemeiner sprachlichen Werth und den wissenschaftlichen Werth, aber hier wie da hat sich das Urtheil nur an das Schriftstück selbst zu halten.
