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Deutſchland kann notoriſch höchſtens 1 Prozent der Juden den Talmud — leſen. Fragt man nun aber, wie konnten die Talmudiſten die einfachen, meiſt ſo ſchönen und für ihre Zeit ſo guten moſaiſchen Vorſchriften in ſolch' abſchreckender Weiſe vermehren und trüben, und was das Trau— rigſte und Schlimmſte bei der Sache iſt, mit ſo glänzendem Erfolge bei der Menge durchdringen, ſo lautet die Antwort, ſie verſtanden es infolge ihrer ſonderbaren Interpretationskünſte Alles und Jedes, auch den pyra midalſten Unſinn in das Bibelwort hinein zu legen. Das Goethe'ſche „Legt ihr nicht aus, ſo legt ihr unter“, hat ſich faſt nirgends ſo bewährt als bei den Talmudiſten: Sie haben ſehr häufig den einfachen Schriftſinn ſo verrenkt, dem klaren Worte ſo ſehr Gewalt angethan, das ſie es nicht ſelten das gerade Gegentheil der urſprünglichen Bedeutung ſagen ließen. Ein ganz beſonderer Virtuoſe in dieſer Dialektik war Rabbi Akiba, der Schriftbeweiſe für Lehren und Satzungen fand, wo Andere vergebens auf der Suche waren. Freilich war ſeine Beweisführung nicht ſelten derart, daß ſelbſt Bewunderer Akibas wie R. Tarphon, Joſe der Galiläer, Eleaſar b. Aſarja u. A. zu ihm ſagten: Wie lange noch Akiba, willſt du die Schrift uns verdrehen? Dennoch wird er in widerwärtiger Uebertreibung und unverzeihlichſter Ueberſchwänglichkeit im Talmud höher als Moſes geſtellt. Man pflegte nach dieſem minutiöſen Syſteme entweder bereits Beſtehendes moſaiſch oder bibliſch zu begründen,(Assmachta) oder, wenn man etwas einführen wollte, einen Anhaltspunkt in der Schrift dafür zu ſuchen, um ihm eine gewiſſe Autorität zu verleihen, ähnlich wie das die Kirche auch that und zum Theil noch thut. Es iſt eine ſtehende Redensart beim Juden„Alles ſteht im Bibel vers“)(Poſſeh. Dieſes Verfahren ſtand und ſteht in gewiſſen Gegenden Polens, Ungarns, ſowie bei den Orthodoxen aller Orten in hohem Anſehen. Dem R. Meir wurde es zum Ruhme angerechnet, daß er es verſtanden haben ſoll, auf dreihundert verſchiedene Arten das Reine für unrein und das Unreine für rein zu erklären, und wurde ſogar von denjenigen, die ins Sanhedrin hoher Gerichtshof) eintraten, ſolche Fertigkeit gefordert. Um nun denjenigen zu begegnen, welche aus dieſer Dialektik Waffen gegen das geſammte Juden— thum holen zu dürfen meinen, bemerken wir, daß das Chriſtenthum in
*) So erzählt man folgendes Bonmot. Ein Talmudjünger kam mit einem großen Koffer an. Da derſelbe in der ihm angewieſenen kleinen Wohnung keinen Platz ſinden konnte, wurde ihm gerathen, denſelben zum Rabbi zu trageu, der ihm ärgſten Falls in den Bibelvers hineinſtellt.