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Der Talmud vom Standpunkte des modernen Judenthums / von Emanuel Schreiber
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Stimme und ſprach: Rabbi Elieſer, der Hort der Tradition, die feſte Burg der Ueberlieferung, die Säule des Herkommens, deſſen Worte bisher überall entſcheidende Geltung hatten, iſt im Rechte. Da richtete ſich Rabbi Joſua hoch auf und rief es laut und hörbar aus: Die Lehre iſt nicht im Himmel, denn nur dem Menſchen iſt ſie gegeben, wir kümmern uns nicht um die Stimme aus dem Himmel, denn Gott ſelbſt hat be­ſtimmt, daß die Mehrheit entſcheide. Wo der Geiſt zu reden hat, da muß die Stimme vom Himmel ſchweigen. Und dabei blieb es. Kurz darauf begegnete Rabbi Nathan dem Propheten Elias und fragte ihn:Was ſagt Gott zu dieſer ganzen Geſchichte! Elias antwortete: Er hat gelächelt und ausgerufen: Meine Kinder haben mich durch ihren Sieg verewigt(B. Mez. 59). Was iſt der Sinn dieſer Erzählung, welche ſo oft und ſo viel verſpottet wird? Offenbar nichts Anderes, als, daß die Freiheit der Forſchung, die Macht der Vernunft höher ſtehen müſſen als die Autorität des Herkomm ens und der Gewohnheit, das Gegen theil von dem bekannten.Es giebt Dinge zwiſchen Himmel und Erde, von denen unſere Weltweisheit ſich Nichts träumen läßt. Die Wunder find natürlich auch nur bildlich aufzufaſſen. Die Frucht des Johannisbrod­baumes galt als einzige Nahrung des wunderthätigen Rabbi Chanina ben Doßa und anderer Gelehrten und ſcheint hier die leibliche Koſt ein Symbol der geiſtigen zu ſein. Das Waſſer mag ſich auf Rabbi Eleaſar ben Arach beziehen, der ob ſeiner Geiſtesfülle mit dem ſprudelnden Waſſer verglichen wurde oder vielleicht auf die wie Waſſer zu den Vorträgen herbeiſtrömende Menge. Somit dürfte der entwurzelte Baum, die rückswärts fließende, verſiegte Quelle andeuten, daß, wenn am Herkommen gerüttelt werde, den Gelehrten die geiſtige Nahrung entzogen und ein Rückgang der Religion beim Volke ſich fühlbar machen würde. Die Wände des Lehrhauſes be­deuten wohl die Schüler, ſomit wäre das Sinken der Wände mit dem Verfalle des Lehrhauſes identiſch. Doch war Rabbi Joſua's Einfluß ſo groß, daß davon nicht die Rede war, wenn auch eine natürliche Ver­ſtimmung unter den Schülern nicht ausgeblieben ſein mochte, wodurch die Schule doch an Einfluß verlor oder mit anderen Worten:

Die Wände kamen in eine ſchiefe Lage. DieHimmelsſtimme ſoll die vox populi darſtellen, die aber nicht immer vor dei iſt, da der urtheilsloſe Haufen ſich leider nur zu ſehr von momentanen Stimmungen beherrſchen läßt. Gott freute ſich, daß ſeine Kinder immer weiter fort­ſchreiten.(vgl. auch Ehrmann: Aus Paläſtina und Babylon S. 252.)

Freilich finden wir auch Stellen, die gegen jene ſchrankenloſe Willkür,