STREIFLICHT E.R
AUS EINEM JAHRHUNDERT INDUSTRIESTADT WITTENBERGE
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde durch den Aufbau der ersten Fabriken und der Eisenbahnanlagen aus Wittenberge eine Industriestadt. Aus den umliegenden Ortschaften und aus der weiteren Umgebung kamen die Arbeitskräfte in unsere Stadt. Für sie mußte Wohnraum geschaffen werden, und schnell wuchs die Stadt über ihre bisherigen Grenzen hinaus. Grundstücksspekulanten und Bauunternehmer machten glänzende Geschäfte. Das Ergebnis waren licht- und luftlose Wohnhöhlen, denen wir heute noch in den Vierteln um Röhlstraße (Röhl’scher Dudel), Friedrichstraße, Müllerstraße und Packhof begegnen.
Unmerklich erst, dann immer stärker sichtbar wurde aus der Stadt der Ackerbürger eine Stadt der Arbeiter. Wie und wann sich die Arbeiter'in Wittenberge organisierten, konnte bis heute noch nicht in allen Einzelheiten festgestellt werden. Aus den Erzählungen alter Einwohner unserer Stadt wissen wir, daß schon vor der Jahrhundertwende ein Arbeiterradfahrverein und der bekannte Chor „Arion“ sozialistisches Gedankengut pflegten. Das berechtigt zu der Annahme, daß bereits vor der Sozialistengesetzgebung (Bismarck 1878/90) eine Arbeiterorganisation bestanden haben muß, die dann in die genannten Tarnvereinigungen überging. Um 1900 bestand eine Ortsgruppe der SPD, die 1909 den ersten Abgeordneten, noch nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählt, in die Stadtverordnetenversammlung schicken konnte. Es war der Arbeiter August Zander, der bei der Firma Fett-Krause beschäftigt war. Obwohl die SPD ständig an Anhängerschaft zunahm, konnte sie keinen wesentlichen Einfluß auf die Verwaltungs- geschäfte der Stadt ausüben. Sie war aber stark genug, wenige Tage vor Ausbruch des ersten Weltkrieges die Wittenberger zu einer Protestkundgebung gegen den Krieg aufzurufen. Auf dieser stark besuchten Versammlung sprach der Abgeordnete Siering, der spätere Landrat von Nauen. Während des Krieges kam es in Wittenberge zu keinen größeren Aktionen der Arbeiterschaft. Erst das Revolutionsjahr 1918 brachte die Wittenberger Arbeiter auf den Plan. Am 9. November um 14.30 Uhr fand eine Sitzung
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