Heft 
(1958) 6
Seite
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HOLDINE STACHEL

Ein Ackerbürgerstädtchen wid In du striestadt

Auszug aus dem im Petermänken-Verlag erschienenen Buch Mit schwerem Gepäck auf steinigem Weg

Nicht der feudale Gutsbesitzer von Putlitz hat dem Städtchen Wittenberge, das im Jahre 1800 nicht mehr als achthundert Einwohner beherbergte, zu höherer Entwicklung verholfen. Gegen die feudalen Ansprüche begannen zuerst bürgerliche Interessen, sich, den Stein-Hardenbergschen Reformen entsprechend, durchzusetzen. Die Schiffahrt auf der Elbe mußte 1819 für den Handel freigegeben werden. Wittenberges Arbeiter dienten seit der Zeit dem Warenverkehr zwischen Berlin und Hamburg. Dampfschiffe, später Schleppdampfer mit ganzen Zügen von Kähnen passierten täglich den Hafen in Wittenberge. Zeitweise zählte man hundertzwanzig durch­fahrende Kähne an einem Tag.

Es lohnte sich also, in Wittenberge Kapitalien zu investieren und durch Arbeitskräfte, die leicht in die Stadt zu ziehen waren, Profite zu erzielen. Eine Ölmühle wurde 1823 gegründet. Bis 1928 blieb sie im Besitz der Familie Herz. Dann wandelte sich das Unternehmen zur Märkischen öl- werke-Aktiengesellschaft, deren Generaldirektor und Hauptaktionär der Amerikaner Luis Roever wurde.

Nachdem 1848 zwischen Berlin und Hamburg auch der Bahnverkehr er­öffnet worden war, wurde 1850 in Wittenberge eine große Tuchfabrik errichtet.

Das Bahnnetz dehnte sich aus. Nach Nord und Süd, nach Ost und West legten die Eisenbahnarbeiter Schienenstränge, die wichtige Zentren deut­schen Handels und Wirtschaftslebens verbanden. Uber Magdeburg, Lüne­burg, Perleberg, Salzwedel liefen die neuen Verkehrsadern und führten nach Dresden, Leipzig, Lübeck, Hamburg, Wismar und Berlin. Siebentausend Einwohner zählte die Stadt im Jahre 1873. Es wurde not­wendig, 1875 ein Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) einzurichten. Zu­nächst arbeiteten dort hundert Menschen. Doch sehr schnell mußten die Werkstätten erweitert und neue angeschlossen werden. Die Zahl der Be­schäftigten wuchs. Der Notwendigkeit, sich um die eigenen Interessen zu kümmern und die politischen Zusammenhänge des wirtschaftlichen Lebens zu erkennen, konnten sich viele Arbeiter nicht entziehen. Aber mit Hilfe des Bismarckschen Ausnahmegesetzes wütete die Reaktion gegen alle Ver­suche der Arbeiterschaft, durch gemeinsame politische Aktionen ihr Recht

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