48 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte »[A]ber etwas abweichend«. Eine Untersuchung der ersten französischen Übersetzung von Fontanes Kriegsgefangen durch Jean Thorel: Souvenirs d’un prisonnier de guerre allemand en 1870 Charlotte Anke Als Fontane 1895 in einem Brief die Inexistenz französischer Übersetzungen seiner Romane feststellte, kommentierte er auch den Titel der französischen Übersetzung seines autobiographischen Werks Kriegsgefangen. Erlebtes 1870: Dieser sei»aber etwas abweichend« 1 . Mit seiner in Klammern vermerkten Beobachtung hatte Fontane nicht unrecht. Über die Übersetzung von Kriegsgefangen ist heute Einiges bekannt: Wie Iwan-Michelangelo D’Aprile und Mathilde Lerenard bemerkt haben, war sie nicht nur die erste Übersetzung Fontanes ins Französische, sondern zählt auch»zu den frühesten internationalen Übersetzungen eines größeren Fontane-Werks überhaupt«. 2 Aus der Feder des französischen Autors Jean Thorel stammend, erschien sie ab Dezember 1891 im Feuilleton der Revue Bleue mit einem umfassenden Vorwort des einflussreichen Literaturkritikers Téodor de Wyzéwa. Sie wurde – Fontane vermerkte es 1892 selbst in einem Tagebuch-Eintrag – in Paris»sehr günstig aufgenommen« 3 . Doch trotz des erfolgreichen Debüts ist Fontane heute einem Großteil des französischen Lesepublikums unbekannt: Als 1902 endlich auch seine erste Romanübersetzung in Frankreich erschien, war der Romancier bereits seit einem Jahr verstorben. Wie der Übersetzer Michel Delines mit der ersten französischen Effi Briest umging, ist ebenfalls bekannt: Kürzungen, Umschreibungen und Auslassungen haben das Werk derart entstellt, dass die französischen Leser nur schwer Zugang zu Fontanes Roman finden konnten. Das Effi-Fiasko bildete den Auftakt zu einer komplexen und zum Großteil glücklosen Rezeptionsgeschichte Fontanes in Frankreich, die nicht zuletzt unter den Konflikten der deutschfranzösischen Beziehungsgeschichte zu leiden hatte. Blieb Fontane in Frankreich nachhaltig das»Rhinocéros« und»nine days wonder« 4 , das er nach seiner Kriegsgefangenschaft vorgab zu sein? Kriegsgefangen wurde erst nach über zwanzig Jahren ins Französische übersetzt. Auch wenn einige Elemente zur Veröffentlichung und Rezeption von Jean Thorels Übersetzung bekannt sind, lag bis heute keine genaue inhaltliche Untersuchung vor. Der Umstand erstaunt umso mehr, als Entste-
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(1.1.2023) 116
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