Heft 
(1.1.2023) 116
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156 Fontane Blätter 116 Rezensionen Annalisa Fischer: Das Nachleben der Muse. Balzac Henry James Fontane. Paderborn: Wilhelm Fink 2020(Münchener Studien zur Literaturwissenschaft). 286 S. 89 Mit den Musen und ihrer Anrufung bei Homer und Hesiod beginnt die eu­ropäische Literatur. Die Geschichte dieses ehrwürdigen Musenanrufs ent­faltet sich in ihrem weiteren Verlauf allerdings unter einem Narrativ der qualitativen Depotenzierung: Der erbetene Beistand der Inspirationsgöt­tinnen wird entwertet zum rhetorischen Anrufungsgestus, zur Dekoration. Da die Musenapostrophe schon in der Antike zuweilen als Floskel verspot­tet wird, scheint der Nachwelt erst recht bloß noch ein ironisch-spieleri­scher Umgang mit dem einst höchst ernsthaften, erzählerisch und sänge­risch notwendigen Anruf der musischen Göttinnen möglich zu sein. Betrachtet man die literarische Musenrezeption aber nur im Ganzen, geraten die Nuancen dieses durchaus komplexen Prozesses aus dem Blick. So trägt etwa die allgegenwärtige ironische Musenanrufung in der Ana­kreontik des 18. Jahrhunderts entscheidend dazu bei, Literatur von christli­chem Vereinnahmungszwang zu lösen und in ihrer Weltlichkeit aufzuwer­ten. Dass das künstlerische Potential der Musen damit noch immer nicht ausgeschöpft ist, zeigt Annalisa Fischer in ihrer Dissertation, in der sie das irritierende Nachleben der Musen im, so könnte man vermuten, endgültig entmythologisierten Realismus des 19. Jahrhunderts untersucht. Fischers »Grundthese«, dass die»Geschichte der Muse« in»der Moderne keines­wegs zu Ende erzählt«(14) sei, stützt sich auf die entsprechende Beobach­tung von Renate Schlesier und wird schlaglichtartig an ausgewählten Ro­manen der drei Autoren Balzac, James und Fontane ausgeführt, die sich nach Fischer einem»realistischen Erzählparadigma«(1) zuordnen lassen. Der erste Abschnitt der Arbeit ist Balzacs weniger bekanntem und spä­ter in seine Die menschliche Komödie eingearbeitetem Roman La Muse du département gewidmet, im zweiten steht Henry James Roman The Tragic Muse im Fokus und im dritten und letzten Kapitel der Arbeit spürt Fischer der Melusine als Neuschöpfung der Muse im Werk Theodor Fontanes nach, besonders in seinem ersten Roman Vor dem Sturm und in seinem letzten Der Stechlin. Die untersuchten Romane will Fischer ausdrücklich nicht in eine»chronologische Rezeptionsgeschichte« einordnen, sondern»als Kom­bination verschiedener, gleichwertiger Nachbilder«(3) analysieren, in de­nen, erneut einen Gedanken Schlesiers aufgreifend(vgl. 15), das poetologi­sche Reflexionspotential und die jeweils»unterschiedliche Funktionalität« (28) der antiken Musenkonzeption produktiv gemacht wird(vgl. 16). Drei Beobachtungen sind für die Untersuchung leitend:»[E]rstens wird aus der ehemaligen Göttin eine moderne Romanfigur, zweitens verwandelt sie sich von der Erschafferin des Textes zu einer in den Text eingelassenen Figur und verliert dabei drittens ihre metamythische Position.«(18)