Heft 
(1.1.2023) 116
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124 Fontane Blätter 116 Freie Formen Erinnerungen an Hans-Heinrich Reuter, der vor hundert Jahren, am 26. Mai 1923, geboren wurde Gotthard Erler Wenn ich an Hans-Heinrich Reuter denke, habe ich einen temperamentvol­len Mittvierziger vor Augen, der, am Pult stehend und rhetorisch überzeu­gend argumentierend, Neues über den alten Fontane vorträgt, ihn als will­kommenen Partner für die Gegenwart interpretiert und im Eifer des Vortrags das Sakko ablegt. Und wenn er, beseelt von der Zuneigung zu sei­nem Autor und beflügelt von dem Wissen über ihn, sich an einen besonders schönen Brief oder an ein sensationelles Zitat heranredet, krempelt er sogar die Hemdärmel hoch. Mit genau dieser leidenschaftlichen Vehemenz hatte er auch sein großes Buch geschrieben. Tatsächlich ragt Reuters Fontane-Monographie aus dem Jahre 1968 wie ein Leuchtturm aus der zerklüfteten literaturwissenschaft­lichen Landschaft heraus, für die sich der diffuse Begriff der ›Fontane-Re­naissance‹ eingebürgert hat. Gemeint ist das neu erwachende Interesse der Leser, vor allem aber die weltweiten wissenschaftlichen Bemühungen, die 1954 mit Kurt Schreinerts Ausgabe der Briefe an Georg Friedlaender beginnen, sich mit den Veröf­fentlichungen von Charlotte Jolles um 1960 fortsetzen und mit dem Start der großen Werkausgaben in München(Nymphenburger und Hanser) und Berlin(Aufbau) markiert sind. Auf diesem Hintergrund bot Reuter siebzig Jahre nach Fontanes Tod die erste wirkliche Gesamtdarstellung des märkischen Multitalents, und er ging weit über das hinaus, was einst Thomas Mann(1910), Conrad Wandrey (1919), Harry Maync(1920) und Heinrich Spiero(1928) um nur diese zu nennen dargestellt hatten. Reuter erfasste in zwei Bänden(1100 Seiten!) alle Facetten des Autors: den sozialkritisch-realistischen Romancier, den märkischen Wanderer, den europäischen Reiseschriftsteller, den Kritiker und Publizisten, den Lyriker und den Briefschreiber, und er ordnete diese Tätigkeitsfelder sehr überzeugend in dessen von Brüchen und Umbrüchen reich strukturierten Lebensgang ein einer keinesfalls abwegigen teleolo­gischen Intention folgend(»So wie er zuletzt war, so war er eigentlich«).