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Franz Rühl in Königsberg.
ist, als daß wir den vergangenen Geschlechtern beträchtlich voraus sind, und eine solche Zumuthung an die Geschichtswissenschaft ist doppelt ungerechtfertigt, weil sie die schwierigste von allen Wissenschasten ist. Denn während alle anderen einen fertigen Stoff besitzen, ein abgeschlossenes Gebiet, auf dem es gilt, die einzelnen Erscheinungen kennen zu lernen und auf ihre Gesetze zurückzuführen, ist die Geschichte die einzige, deren Stoff selbst immerfort wächst, wo der höchsten denkbaren Intelligenz nach vollkommener Erforschung aller vorangegangenen Zeiträume immer nur eiu Theil des Materials zu Gebote stände, aus dem sie ihre Schlüffe zu ziehen hätte, da immer der größte Theil der Geschichte noch in der Zukunft liegen wird. Diese Eigen- thümlichkeit der Geschichte zu verkennen, war der Hauptfehler, an dem Buckles neue Grundlegung ler Historik scheitern mußte. Soll aber eine Wissenschaft der Geschichte wirklich bestehen, so muß der Versuch einer universalhistorischen Uebersicht im Schlosser'schen Sinne immer wieder gemacht werden, auch auf die Gefahr hin, daß er rascher veralte, als die Geisteskraft erwarten ließe, die an ihn gewendet ward.
Und sollte es wirtlich unmöglich sein, bei einer solchen Auffassung die Geschichte von anderen Wissenschaften abzufondern? Müßte ihr Stoff wirklich begrenzt, etwa, wie Lorenz aussührt, aus die politischen und gesellschaftlichen Momente beschränkt werden? Es bleibt ein wesentlicher und tief greifender Unterschied zwischen dem Begriff der Geschichte und dein aller übrigen Wissenschaften. Alle anderen Wissenschaften haben es mit dem Sein zu thun, die Geschichte allein mit dem Werden. Nicht alle einzelnen Wissenschaften begreift sie in sich, sondern sie zieht ihre Ergebnisse nur soweit heran, als sie auf die Entwicklung des menschlichen Geschlechts und feiner Cultur ein Licht zu werfen geeignet sind. Daß auch so noch ein Ungeheueres verlangt werde, hat Schlosser trotz der „naiven Zuversicht^, mit der man zu feiner Zeit hoffen konnte, sich mit Hilfe einiger weniger Haupt- und Grundwerte aus dem Gesammtgebiet aller Wissenschaften soweit nöthig zu orientireu, keinen Augenblick verkannt, ebenso wenig wie die Unlösbarkeit der Aufgabe selbst für seine so unendlich ausgebreitete Gelehrsamkeit. Ein Unternehmen wie die Universalgeschichte, sagte er ausdrücklich, könne erst nach vielen Versuchen gelingen, und jeder Bescheidene werde, wenn er eine Geschichte der Menschheit schreibe, nichts anderes, als einen Versuch oder einen Beitrag zu einer solchen Geschichte geben wollen.
Indessen die Kritik gegen Schlosser war richtig, haben wir bemerkt, woran liegt der Fehler? Sollte es eine alte Gewohnheit sein, noch aus der Zeit der vier Monarchien her, die ihn bestimmt hätte, erst von den Persern an ausführlich auf Staatengeschichte einzugehen und nachher fast bloß die europäischen Völker eingehend zu behandeln? Aber schon Gattuer und Schlözer waren in ihren universalhistorischen Compendien ganz andere Wege gegangen. War es Mangel an Kenntnissen und die so häufige bequeme Selbsttäuschung, was mau nicht wisse, sei auch nicht der Mühe werth,