Heft 
(1880) 39
Seite
402
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lieber G. E. Lessing.

Von

Lruna Fischer.

Veidelberg.

II. Lessings Minna von Barnhelm.

I.

eit den Tagen der Renaissance galt in der Lehre und Ausübung der dramatischen Dichtkunst ein Kanon der Einteilung, wonach die Arten des Dramas sich wie die Stände und Rangstufen der menschlichen Gesellschaft Verhalten sollten: Fürsten und Helden gehören nur in die Tragödie, die bürgerliche Klasse in die Comödie, die Bauern in das Schäferspiel. Die großen Personen der Welt müssen

nach standesgemäßer Poesie ernst und erhaben, die bürgerlichen Leute spaß­haft und lächerlich erscheinen; dort enthüllt die dramatische Kunst heroische Handlungen und Schicksale, hier Thorheiten und Laster. Was in dem Leben der Fürsten und Helden nach gewöhnlicher oder niederer Menschenart geschieht, kommt ans der Bühne so wenig zum Vorschein, als in der Etikette der Hof- und Staatsactionen; was in der bürgerlichen Welt Ergreifendes und Erschütterndes erlebt wird, ist für die dramatische Muse nicht vorhanden und findet im Spiegel ihrer Kunst kein Abbild. Es war nicht schwer zu entdecken, daß der Inhalt des wirklichen Lebens in den steifen Formen einer solchen Kunst nicht aufgeht. In dem Dasein der Großen ist nicht Alles hoher Ernst, wie schon Corneille bemerkt hatte; die Könige sitzen nicht mit Krone und Scepter am Tisch, wie imgestiefelten Kater". Noch weniger besteht das bürgerliche Leben in einer Sammlung typischer Thorheiten und Laster. So hatten sich zwischen der wirklichen Welt und der dramatischen Kunst, die ihr den Spiegel Vorhalten soll, traditionelle Schranken auf- gethürmt, die den ernsten Empfindungen und Begebenheiten den Eingang in