Heft 
(1880) 39
Seite
403
Einzelbild herunterladen

- Ueber G. E. Lessing. II. - H05

das Lustspiel, und den bürgerlichen Erlebnissen und Schicksalen den Eingang in die Tragödie sperrten. Diese Schranken müssen im Angesichte der neuen Zeit/insbesondere dem Selbstgefühl des modernen, reich entwickelten, innerlich lebensvollen Bürgerthums gegenüber als unnatürliche empfunden werden und fallen. Die dramatische Poesie war standesgemäß, sie soll menschlich werden; der dritte Stand forderte seine Gleichberechtigung erst auf der Bühne, dann im Staat: die poetische Revolution war eine Vorläuferin der politischen!

Durch die Wegräumung jener Schranken bilden sich zwei neue, den Zeitbedürfnissen entsprechende, darum zeitgemäße Formen des Dramas. Die Komödie nimmt ernste und ergreifende Begebenheiten, die Tragödie bürger­liche Erlebnisse und Schicksale in sich auf: so entsteht dortdas rührende Lustspiel", welches die Gegner das weinerliche (eoraigns larmoyant), Gottsched das heulende nannten; hierdas bürgerliche Trauerspiel": jenes haben die Franzosen, namentlich Nivelle de la Chaussee, dieses die Engländer, zunächst George Lillo in seinemKaufmann von London" (1731) ausgebildet. Beide Formen hatte Lessing vor sich, als er seine Abhand­lungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele schrieb (1754).

Er selbst hielt sich an die Engländer und wollte der deutschen Bühne das erste bürgerliche Trauerspiel geben. Aber hier war eine Umgestaltung nöthig. Daß die bisherige Tragödie, die sogenannte hohe, ihre Charaktere aus den Höhen der Gesellschaft, in Fürsten und Helden suchte und ihre Handlungen in entlegenen Zeiten und Ländern geschehen ließ, damit die Erhabenheit ihrer Personen nicht durch die Nähe geschwächt werde, hatte nicht blos die traditionelle Autorität für sich, sondern eine gewisse menschliche Berechtigung. Um gewaltige Leidenschaften zu haben und auszulassen, muß man gleichsam mit ungehemmter Kraft ausholen und handeln können, und dazu ist ein weiter, nnbeengter Spielraum nothwendig, wie ihn die Großen der Welt durch ihren erhabenen, den gewöhnlichen Gesetzen entrückten und überlegenen Lebens­zustand unmittelbar besitzen. Sie sind in der menschlichen Gesellschaft ans den Kothurn gestellt und erscheinen daher für die Tragödie wie privilegirt. Anders verhält es sich mit den bürgerlichen Personen, die von allen Seiten durch Gesetze eingeschränkt, auf Schritt und Tritt Gensdarm und Polizei in der Nähe haben. Hier werden Ausbrüche der Leidenschaft und gewaltthätige Handlungen leicht zu gemeinen Verbrechen, die der bürger­lichen Justiz verfallen und besser in den Pitaval als aus die Bühne gebracht werden. In jenem englischen Trauerspiel, das Lessing vor sich hatte, wird ein junger Kaufmann in die Netze einer Buhlerin verstrickt, zu Unthaten verführt und zuletzt als Dieb und Mörder zum Galgen verurtheilt; das macht auch seinen Effect, aber nicht die erschütternde und erhebende Wirkung, die wir tragisch empfinden. Das bürgerliche Trauerspiel bedarf daher eines Spielraumes, den äußerlich beengte Lebenszustände weniger einschränken und verkümmern können: Dies sind die Conslicte des Herzens, die ergreifenden