Heft 
(1880) 39
Seite
404
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Anno Fischer in Heidelberg.

Begebenheiten und Schicksale, die innerhalb des Hauses und der Familie erlebt werden und um so mannigfaltiger sind, um so sympathischer berühren, je reicher und tiefer das Gemüthsleben der Welt sich entwickelt hat. Die Stürme, die das zurückgezogene Gebiet des Herzens und der Familie bewegen, brachte der englische Buchdrucker Samuel Richardson in seinen Romanen, vor allem in der Clarissa, zur Darstellung und erösfnete damit die Bahn jener Dichtungen, die in der neuen Heloise und im Werther ihre Vollendung erreichen sollten.

In der Umgestaltung des bürgerlichen Trauerspiels zur Familien­tragödie erkannte Lessing seine nächste Aufgabe: er dichtete Miß Sara Sampson und vereinigte in diesem Stück (wie Danzel des Näheren nach­gewiesen) gewissermaßen Lillo und Richardson, den Kaufmann von London und die Clarissa. Das Werk wurde in den ersten Monaten des Jahres 1755 in einem Gartenhause zu Potsdam vollendet und den 10.,Juli in Frankfurt a/O. aufgeführt. Es machte den Anfang zur Reform des Dramas. Zum

erstenmal betrat ein bürgerliches Trauerspiel die deutsche Bühne. Aber das Stück selbst spielte nicht blos mit seinen Figuren und Begebenheiten in England, sondern blieb auch in der Behandlung und Ausführung des Stoffs, selbst in der Stilisirung der Charaktere dergestalt von seinen Vorbildern abhängig, daß ein Engländer, der es sah, wetten wollte, es sei englischen Ursprungs und nur eine deutsche Übersetzung. Es war noch kein nationales Drama, auch kein gelungenes Kunstwerk; man hat nicht Charaktere und wohl motivirte Handlungen vor sich, die den Gang des Schicksals bestimmen, sondern Situationen und Empsindungsarten, deren Schilderungen auf den raffinirten Effect des Mitleids berechnet sind. Saras Ermordung durch Marwood müßte eine That der Rache sein, die aus der Eifersucht folgt, aber die Buhlerin ist nicht eifersüchtig, denn sie liebt den abtrünnigen Mann nicht, sondern will ihn nur ausbeuten; sie wird auch nicht durch Habsucht getrieben, denn eine Mörderin, die ihre Unthat rühmend eingesteht, hat nichts zu gewinnen. Der tragische Ausgang ist unmotivirt. Eben so unbegründet erscheint, daß Mellefont die Buhlerin als seine Verwandte der Sara zufuhrt, wodurch allein jenes tragische Ende der letzteren ermöglicht wird. Diesen entscheidenden Schritt zu motiviren, hat der Dichter nicht einmal den Schein eines Grundes aufgewendet. In eine Lage gebracht, worin sie nur noch in Demuth zu gehorchen und nichts mehr zu fordern hat, wagt Marwood eine solche Bitte, und Mellefont gewährt sie ohne Weiteres,nachdem er einen Augenblick nachgedacht". Ich vermuthe den Inhalt feines verschwiegenen Monologs. Ich muß es thun, denkt er, sonst kommt die Tragödie nicht zu Stande. So aber macht sich nicht die Handlung, sondern, um niit Lessing zu reden der Rummel einer Tragödie!

Die Bedeutung der Sara beschränkt sich auf die neue Art des Dramas, die Herstellung eines bürgerlichen Trauerspiels durch die Wegräumung der Schranke zwischen der tragischen Dichtung und dem bürgerlichen Leben,