lieber G. E. Lessing. II.
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zwischen Familie und Bühne. Die Schranke zn durchbrechen, die das deutsche Leben und seine Gegenwart vom Theater trennt, ist die Ausgabe, die sich jetzt erhebt, und in ihrer Lösung liegt die entscheidende That.
II.
Hier aber gab es kein Vorbild, worauf man Hinweisen, keines, das man literarisch erwerben konnte, oder bei dem sich eine poetische Anleihe machen ließ. Das Original zu unserem nationalen Drama mußte in
Deutschland erlebt werden und gegenwärtig sein, wie der heutige Tag. Man kann der Kunst und Dichtung nationalen Charakter wünschen, aber unmöglich daraus eine Anweisung machen, die in jedem beliebigen Zeitpunkte, wenn man nur ernstlich wolle, auszuführen sei; nationale Gesinnung und Asfecte lassen sich der Poesie so wenig vorschreiben, als man dem Dichter rathen kann: „Sei originell, sei genial; ich will dir sagen, wie du die Sache anzufangen hast". Wenn er nach einer solchen Vorschrift handelt, ist er gewiß das Gegentheil des Originals. Und wenn die Poesie erst belehrt werden oder selbst ergrübeln muß, was zu thun sei, um unsere nationalen Empfindungen zu bewegen, wird sie sicher nicht das Herz des Volkes treffen, sondern auf allerhand Hirngespinnste gerathem, wie Klopstock, der Barden erfand, wo nie welche waren.
Den: nationalen Umschwung der deutschen Dichtung mußte eine Umwandlung der deutschen Nation selbst vorausgehen: eine neue gewaltige Zeit, die das morsche, iu seinen mittelalterlichen Formen erstarrte, vom dreißigjährigen Kriege niedergeworfene Reich in seinen Grundfesten zerstörte und den deutschen Staat der Zukunft schuf. Diese Zeit erschien in dem Augenblick, als auch unserer Dichtung kein anderes Thema blieb, als nationale, erlebte, gegenwärtige Schicksale; die Anleihe, die Lessing zu unserem ersten bürgerlichen Trauerspiel bei den Engländern gemacht hatte, war verbraucht; die neue Dichtung mußten wir mit unseren eigenen Mitteln bestreiten. Die Epoche, von der ich rede, ist der siebenjährige Krieg und der Thaten- ruhm Friedrichs des Großen.
Die Phantasie, hatten die Schweizer gesagt, bedürfe neuer, ungemeiner, erhabener Vorstellungen von wunderbarer Wirkung; die Tragödie nach alter Art verlangte erhabene Personen, Könige und Helden, die von Natur das Recht und die Kraft gewaltiger Leidenschaften, Handlungen und Schicksale haben. Nun, eine solche bewunderungswürdige Person, ein König und Held, der selbst nach dem Urtheile des Feindes durch seine Einsicht und Thatkraft wie kein Zweiter das Diadem geadelt, steht plötzlich vor den Augen der Welt: er allein gegen eine Welt in Waffen, die seinen Untergang begehrt! Die Tragödie ist da, die gewaltigste, die es giebt: „denn der Krieg läßt die Kraft erscheinen, Alles erhebt er zum Ungemeinen, selber dem Feigen erzeugt er den Muth!" Welche Contraste und Schicksalswechsel in dem Gange dieses Krieges, in dem Leben dieses Königs: die Siegesschlachten von