Anno Fischer in Heidelberg.
die er nicht überwinden kann und welche durch sie besiegt werden müssen: darin liegt der Knoten unseres Dramas. Er ist geschürzt, sobald Minna ihren Bräutigam wieder gefunden und die Beweggründe entdeckt hat, die ihn zur stillen Entsagung genöthigt. Damit ist das Problem entwickelt, welches die weitere Handlung zu lösen hat. In der Auseinandersetzung dieses Problems besteht die Exposition unseres Dramas; sie bildet das Thema der beiden ersten Acte; am Ende des zweiten liegt die Sache, um die es sich handelt, die dramatische Ausgabe offen am Tage, ihre Lösung wird im dritten vorbereitet, im vierten begonnen und im fünften vollendet. Die Einheit der Handlung ist unterstützt durch die des Orts und der Zeit: der Ort, wo sie vor sich geht, ist das Berliner Gasthaus zum König von Spanien, die Zeit der 22. August 1763.
Bekanntlich hat Goethe in den beiden ersten Acten unseres Stückes die unerreichte Kunst des Motivirens bewundert und darum die Exposition der Minna von Barnhelm, die er an Meisterschaft nur mit der des Tartuffe zu vergleichen wußte, sich zum Borbilde dienen lassen. Wir wollen diese meisterhafte Exposition zu erleuchten suchen, indem wir zeigen, welche Aufgabe hier zu lösen war, und wie Lessing dieselbe gelöst hat.
Minna von Barnhelm sucht ihren Bräutigam, von dem sie seit Monaten nichts mehr gehört, und findet ihn in einem Berliner Gasthause wieder:
dies ist die erste zu motivirende Handlung. Da sie ihn sicher zu finden
wissen wird, wo er auch ist, so hat der Zufall, der sie in dasselbe Gasthaus
führt, keine weitere dramatische Bedeutung. Aber es ist eine sehr gewagte
Situation, die an sich den Charakter des Komischen trägt, wenn eine Dame ihrem abhanden gekommenen Bräutigam nachläuft. Hätte uns Lessing eine solche lächerliche Begebenheit vorführen wollen, so konnte er sein Lustspiel damit eröffnen; er hat es nicht gethan, sondern Minna von Barnhelm erst im zweiten Act auftreten lassen, nachdem wir aus dem Gange des ersten den Mann ihrer Liebe kennen und dadurch verstehen gelernt, daß sie bis ans Ende der Welt reisen würde, um ihn wiederzusinden. Jede Art der Untreue und des Flattergeistes ist von dem Charakter Tellheims ausgeschlossen, es konnte nur Unglück sein, das ihn verstummen ließ, Schicksalsstürme, die ihn betroffen haben, und deren Ungemach er allein tragen will. Jene großherzige Gesinnung, die ihn vermocht hat, in den Krieg zu ziehen im Dienste des ersten Heldenkönigs der Zeit, ist aus den Kämpfen noch gestärkter und gestählter hervorgegangen. In jeder Art der Selbstverleugnung eisern, in jedem Mitgefühl für die Leiden Anderer hingebend und zart, vereinigt Tellheim die menschlich schönsten Empfindungen und die soldatisch tüchtigsten Eigenschaften, das weiche menschenfreundliche Herz und die kriegerische Zucht so ungesucht mnd eindrucksvoll, daß er auf seine Untergebenen, wenn sie nicht ganz verdorbene Naturen sind, einen unwillkürlichen Zauber ausübt. der sie mit schwärmerischer Anhänglichkeit, mit unbedingter Treue und Hingebung an seine Person fesselt.