Issue 
(1880) 39
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419
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lieber G. L. Lessing. II.

engel herbei, der dem guten, hochherzigen, tapferen, unglücklichen, in der Sorge für fein eigenes Wohl nachlässigen und thatlosen Mann die hilfreiche Hand reiche. Jetzt erst erscheint Minna von Barnhelm.

Das Gespräch zwischen ihr und Franziska, womit der zweite Act beginnt, ist das Muster eines Lessing'schen Dialogs. Der Dichter war seiner dialogischen Kunst, wie alles dessen, was er that, sich vollkommen bewußt; er macht einmal die überraschend wahre Bemerkung, daß die unwillkürlichen Bilder und Metaphern, die ein Gespräch hervorruft, auch häufig die unge­suchten Mittel sind, die es leicht und zwanglos fortleiten*). Verweilen wir mit dem Interesse dieser Beobachtung einen Augenblick bei der Composition des Gesprächs, das im Gange unseres Lustspiels uns eben hier begegnet.

Wie leicht und natürlich fließt in dieser weiblichen Plauderei eine Wendung aus der anderen, bis sich der Dialog gleichsam in das Element ergießt, von dem die Herzen erfüllt sind! Minna ist nach einer unruhigen Nacht sehr früh aufgestanden:Die Zeit wird uns lang werden, Franziska!" So beginnt das Gespräch. Was ihr die Ruhe gestört hat, war wohl nicht, wie das Kammermädchen aus eigener Erfahrung meint, der nächtliche Lärm der großen Stadt, denn das Fräulein läßt auch das Frühstück unberührt. Um die Langeweile zu vertreiben, bemerkt neckend Franziska,werden wir uns putzen müssen und das Kleid versuchen, in welchem wir den ersten Sturm geben wollen". Weiß sie doch, woran ihr Fräulein denkt und worüber sie am liebsten sprechen möchte, ohne den Anfang zu machen. Was redest Du von Stürmen, da ich blos hier bin, die Haltung der Capitulation zu fordern". Hier ist das Bild, kriegerisch und militärisch, wie die Zeit. Unwillkürlich erinnert es an den Offizier, der dem

Fräulein sein Zimmer geräumt und dafür einen höflichen Dank empfangen

hat. Daß er nicht so höflich war, seine Aufwartung zu machen, findet die Kammerjungfer zu tadeln. Wir sind schon an der Stelle, die das Gespräch ungesucht und schnell erreichen mußte, das Bild vom Sturm und der

Capitulation hat geholfen; der unhöfliche Offizier erinnert an das Muster des Gegentheils:Es sind nicht alle Offiziere Tellheims", erwidert

Minna, froh, daß sie von ihm sprechen kann.Mein Herz sagt mir, daß ich ihn finden werde". Aber das Herz, entgegnet Franziska, redet uns gewaltig gern nach dem Munde, während sich dieser sehr in Acht

nehmen muß, nach dein Herzen zu reden und unsere eigenen Gefühle oder gar Vorzüge zu offenherzig darzuthun. Wo sind wir hingerathen? Von der Hoffnung Minnas auf einen glücklichen Ausgang ihrer Reise in eine wortspielende Plauderei über Herz und Mund, wobei die gescheidte und witzige Franziska eine Reihe Einfälle hat, die mit der Bemerkung enden: Man spricht selten von der Tugend, die man hat, aber desto öfter von der, die uns fehlt". Alle ihre Einfälle fließen aus derselben Wendung,

*) Vgt.Nord und Süd" Machest: I. Lesfiugs reformatorische Bedeutung, S. 217.