Issue 
(1880) 39
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- Ueber G. L. Lessing. II. - ^25

Sie die vorige Nacht campirt hätten". (Du kannst es errathen haben", antwortet der Major.)

Seitdem Minna den Brief gelesen, weiß sie, daß Tellheims Entsagung zwar in seiner Absicht den edelsten, aber in Wahrheit einen verkehrten Grund hat, daß sie nicht aus der Kraft, sondern aus einer Schwäche oder einem Fehler seiner Denkart hervorgeht. ,,Ein wenig zu viel Stolz scheint mir in seiner Aufführung zu sein. Denn auch seiner Geliebten sein Glück nicht wollen zu danken haben, ist Stolz, unverzeihlicher Stolz!" Diesen Fehler, der aus Ueberzartheit das wahre Zartgefühl abstumpft und verhärtet, ihm selbst zu erleuchten, ist ihre Aufgabe.Ich denke der Leetion nach, die ich ihm geben will. Du wirst sehen, daß ich ihn von Grund aus kenne. Der Mann, der mich jetzt mit allen Reichthümern verweigert, wird mich der ganzen Welt streitig machen, sobald er hört, daß ich unglücklich und verlassen bin". Sie besitzt als natürliche Mitgift, was ihm fehlt: ich meine nicht das Geld, sondern den Humor, der frei um sich blickt, Tellheims Hemmungen durchschaut und die Bande derselben löst.

Der kluge Plan gelingt vollkommen. Kaum hat Tellheim erfahren, daß sie enterbt, flüchtig/verfolgt ist, so hat er sein Unglück vergessen und fühlt sich frei und wie gerettet.Meine ganze Seele hat neue Triebfedern bekommen. Mein eigenes Unglück schlug mich darnieder, machte mich ärgerlich kurzsichtig, schüchtern, lässig; ihr Unglück hebt mich empor. Ich sehe wieder frei um mich und fühle mich willig und frei, Alles für sie zu unter­nehmen". Mit einem Male wird es Licht in seiner Seele, und er erkennt, wie verkehrt und thöricht der Liebe gegenüber sein Unglücksstolz war. Wie Minna mit seinen Gründen seine Hilfe, Begleitung und jede Verbindung mit ihr zurückweist:Wo denken Sie hin, Herr Major? Ich meinte

Sie hätten an Ihrem eigenen Unglück genug; Sie müssen hier bleiben, Sie müssen sich die allervollständigste Genugthuung ertrotzen" bekennt ihr Tellheim seinen Jrrthum:So dacht, so sprach ich, als ich nicht wußte,

was ich dachte und sprach. Aergerniß und verbissene Wuth hatten meine ganze Seele umnebelt; die Liebe selbst in dem vollsten Glanze des Glückes konnte sich darin nicht Tag schaffen. Aber sie sendet ihre Tochter, das Mitleid, die, mit dem finstern Schmerze vertrauter, die Nebel zerstreut und alle Zugänge meiner Seele den Eindrücken der Zärtlichkeit wiederum öffnet. Der Trieb der Selbsterhaltung erwacht, da ich etwas Kostbareres zu erhalten habe, als mich, und es durch mich zu erhalten habe".

In dieser Umwandlung Tellheims, in dieser Wiederherstellung seines wahren Charakters und seiner Kraft liegt die eigentliche Lösung des Knotens. Daß sie durch eine Täuschung herbeigeführt wird, mindert nichts an ihrer Bedeutung und ihrem Bestände. Es war, wenn ich den Ausdruck brauchen darf, eine homöopathische Heilung. Er mußte so, wie Minna es erdacht und ausgeführt hat, getäuscht werden, um seine Selbsttäuschung und Ver­blendung zu erkennen, seinen Unglücksstolz und Unglücksegoismus, denn

Nord und Süd. XIII. ZS. 29