Diese Diskrepanz löst sich zumindest partiell auf, wenn man die Mehrdeutigkeit öffentlicher Berufsbewertungen genauer betrachtet. Einmal geht es um einen sozialen Status, der mit Macht, Einfluß, Einkommen verknüpft ist. Da rangiert die Grundschullehrerin keineswegs in den vorderen Rängen. Selbst der Einfluß, den ein Grundschullehrer auf die Entwicklung eines Kindes hat, trägt nicht zu einem Prestigezuwachs bei. Auf der anderen Seite steht der konkrete lebensgeschichtliche Bezug zu der eigenen Lehrerin, dem eigenen Lehrer: Jeder Mensch hat in einem begrenzten Lebensabschnitt eine spezifische Beziehung zu der Person der Grundschullehrerin bzw. des Grundschullehrers gehabt. Von den Erwachsenen wird diese Beziehung rückwirkend gedeutet. Erfahrungen, die man als Eltern-, vielleicht auch als Großelternteil mit der Grundschule gemacht hat, ergänzen und vervielfältigen das Bild. Ergebnis ist eine offensichtlich überwiegend positive Beziehungsdeutung. Erlebte Konflikte werden im nachhinein bagatellisiert, Abhängigkeiten, auch in der Grundschule erfahrene Prägungen geleugnet oder minimiert. Die Grundschullehrerin erscheint in der Rückschau als freundliche Begleiterin in einer kurzen Lebensphase. Meine These ist nun, daß solche noch wenig erforschten, tendenziell verklärenden Proportionsverschiebungen zu Stereotypen führen, die im kollektiven Bewußtsein wirksam werden. Stereotypen verschleiern Realität, z.B. daß es für eine erfolgreiche Tätigkeit als Grundschullehrerin nicht damit getan ist, über einen gütigen, möglichst mütterlichen Charakter sowie über eine sichere Rechtschreibung und Routine in der Anwendung der Grundrechenarten zu verfügen. Entsprechend schwer ist es manchmal, die Akzeptanz für eine Grundschullehrerausbildung zu finden, die sich weder auf eine verengte Fertigkeitsvermittlung reduziert, noch ihre Wissenschaftlichkeit lediglich aus den Theorieansprüchen des Fächerkanons der Sekundarstrufen bezieht, wozu universitäre Primarstufenlehrerausbildung faktisch aber tendiert.
Folgen eines diffusen Berufsbildes
Schaut man die umfassende erziehungswissenschaftliche Literatur zum Berufsbild, zum Qualifikationsprofil von Lehrerinnen und Lehrern durch, wird man mit Erstaunen feststellen, daß die in der öffentlichen Einschätzung so hoch gewichteten schulstufen- und schulformspezifischen Unterschiede eher eingeebnet als kritisch analysiert werden. Die einschlägige Literatur unterstellt in der Mehrzahl die Existenz eines idealen Einheits- oder Gesamtlehrers, so wie ihn sich vor fast 200 Jahren Humboldt oder Herbart und zu Beginn unseres Jahrhunderts die Reformpädagogen vorgestellt haben mögen. Immerhin: Dieser synthetische Gesamtlehrer grenzt die Spezifika des Grundschullehrerberufs nicht aus. Eher scheint ein väterlich erziehender und entsprechend meist maskulin gedachter Grundschullehrer Prototyp dieses Lehrerkonstrukts zu sein.
Problematisch für die Entwicklung von Grundschullehrer-Ausbildungskonzepten ist insbesondere folgendes Dilemma: Es ist die außerordentliche Schwierigkeit, die Forschung und Fachdiskussion damit haben, die spezifischen
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