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Der Talmud vom Standpunkte des modernen Judenthums / von Emanuel Schreiber
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fährlich werden kann, beſonders, wenn er gering geſchätzt wird, und daß namentlich im Staaten⸗ und Völkerleben die Decadence des einen in der Regel die Blüthe und den Aufſchwung des andern zur Folge hat. Viel leicht liegt auch in dieſer Allegorie die verſteckte Anſpielung darauf, daß Israel, welches von ſo vielen mächtigen Völkern angegriffen und bedrückt wurde, die gigantiſchen Säulen des Alterthums ſtürzen, viele Nationen in den Strom der Geſchichte verſinken ſah, während es ſelbſt, am Ufer deſſelben ſtehend, alle ſeine Verfolger überdauert hat.

5) Ein Weiſer war geſtorben und lebte wieder auf. Auf die Frage, was er im Jenſeits geſehen, antwortete er: Die hier oben ſtehen, waren dort unten, und die Letzten hier waren die Erſten dort, fürwahr eine ver kehrte Welt! O nein, verſetzte ein Anderer, das war gerade die rechte Welt(Peſſ. 50). Nun dazu wird ſich Jeder wohl den Commentar ſelbſt machen. Uebrigens lautet die Stelle ähnlich im Evangelium Math. 19, 30. Viele, die hier die Erſten find, werden dort die Letzten fein.

6) Wenn der Menſch ſieht, daß die Leidenſchaft ihn zu übermannen droht, ſo kleide er ſich ſchwarz und gehe dahin, wo ihn Niemand kennt (Chagiga 16a), d. h. er entferne den falſchen Schein, das farbige, ſchim­mernde, blendende Prachtkleid, und lege Trauer an um den drohenden Ver luſt ſeines Seelenfriedens und ſeiner Unſchuld und gehe dahin, wo ihn Niemand kennt, als nur er ſelbſt, d. h. er gehe in ſich, ziehe ſein Gewiſſen zu Rathe, dann wird die Leidenſchaft ihre Gewalt verlieren.(Sachs II. 274.)

7) Adams Wuchs reichte von der Erde zum Himmel, nach feiner Sünde wurde er von Gott klein gemacht(Chagiga 12), d. h. die wahre Menſchengröße beſteht in der Reinheit ſeines Charakters, im Adel ſeiner Geſinnung, in der Fleckenloſigkeit ſeines Lebens, ſobald er ſich dieſer Vor züge begiebt, wird er von feiner Höhe herabgeſtürzt.

8) Der Patriarch Abraham hatte an ſeinem Halſe einen Edelſtem hängen, welcher die Eigenſchaft beſaß, jeden Kranken, der auf ihn ſchaute, von ſeiner Krankheit zu heilen. Nach Abrahams Tode jedoch hängte Gott dieſen Edelſtein an die Bahn der Sonne(B. Bathra 16). Abraham hat bekanntlich zuerſt den Monotheismus bekannt und mit dieſer Idee Licht gebracht in die Finſterniß des Heidenthums und in die Nacht des Aberglaubens, er hat gewiſſermaßen die Kranken an Geiſt geheilt. Auch hat er ſeine erleuchtete Erkenntniß und geläuterte Anſchauung nicht etwa in ſeiner Bruſt vergraben, ſondern zu verbreiten, zum Gemeingut ſeiner Mitmenſchen zu machen geſtrebt, ſo daß durch ſein gutes Beiſpiel dieſer herrliche Edelſtein auch nach ſeinem Tode wie Sonnenglanz weithin ſtrahlte.

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