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Der Talmud vom Standpunkte des modernen Judenthums / von Emanuel Schreiber
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Geiſter, das Grab Moſis, welches bekanntlich kein Menſch geſehen, der Widder, der anſtatt Iſak's zum Opfer dargebracht wurde, und noch Andere fügen naiv hinzu: Auch die Zange, mit welcher die erſte Zange gemacht ward.

Was iſt der Sinn jener räthelhafteu Worte? Sie bergen offenbar den tiefen Kern, daß der Lauf der Naturgeſetze nicht geſtört werden kann. Es will damit geſagt werden, daß es Wunder in dem vulgären Sinne des Wortes, als die ewigen Geſetze der Natur auf­hebend, überhaupt nicht giebt. Vielmehr ſeien all die Dinge, welche uns wunderbar ſcheinen, vorher erſchaffen worden.(Abot V, 7) Als Commentar zu dieſer Anſchauung mögen noch folgende talmudiſche Stellen Platz finden:

Man verlaſſe ſich nicht auf Wunder(Eidd. 39).Man begebe ſich nicht an gefahrvolle Stellen, ſprechend, Gott wird Wunder thun (Schabb. 31).Nicht zu jeder Zeit geſchehen Wunder(Peſſ. 3, Me­gilla 7).Nnr ein niedriger Menſch wird ſeinen Schöpfer zur Hervor bringung von Gegenſtänden gegen die Naturgeſetze veranlaſſen wollen (Schabb. 53). Auch der Wunderthäter kennt nicht ſeine Wunder(Niddah 31). Die Heilung eines Kranken iſt ein größeres Wunder als das der Errettung der 3 Männer aus dem feuerigen Ofen,Wahrung vor Sünde iſt ein Wunder. Ueberhaupt iſt es ein großer, unſeliger Irrthum, wenn man glaubt, im Talmud hätten nur die ſtarre Geſetzlichkeit, das rückſichtsloſe non possumus des Stabilismus und Stillſtandes ihre Domäne. Wir finden in demſelben Ausſprüche ob deren Freiſinnigkeit wir in ge­lindes Staunen verſetzt werden.

Rabbi Jehuda Hanaſſi,(der Fürſt) der Redaktor der Miſchna, hatte etwas erlaubt, was früher freilich irrthümlich für religiös verboten galt. Da machten ihm ſeine Verwandten Vorwürfe. Wie, riefen ſie, was Deine Vorfahren für verboten erklärten, wagſt Du zu erlauben? Gewiß, erwiderte er, denn ſeht: In der Bibel wird uns berichtet, daß Hiſkias die kupferne Schlange zerbrach, welche Moſes in der Wüſte an­fertigen ließ, obwohl frühere Könige, die ebenfalls Götzendienſt und Aber­glauben vernichten wollten, an dieſen Mißbrauch ſich nicht heranwagten, eben, weil er von Moſes herrührte. Gerade ſo ergeht es mir, meine Ahnen haben es mir überlaſſen, alte Irrthümer abzuſchaffen.(Chulin 6, II, Kön. 18.)Erleichtern und modifiziren auf religiöſem Gebiete, iſt jederzeit verdienſtlicher als erſchweren(Ber. 60, Erub 72).Sobald die Zeit­bedürfniſſe es erfordern, dürfen auch moſaiſche Geſetze aufgehoben werden(ſowie der Arzt bisweilen ein Glied vom Körper amputirt, um