Heft 
(1.1.2023) 115
Seite
104
Einzelbild herunterladen

104 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung Entzweite Moderne durchschaute Ambivalenz. Fontanes Novellenfragment Storch von Adebar und der Essayentwurf Adel und Judenthum in der Berliner Gesellschaft Mike Rottmann 1. Moderne und Ambivalenz ›Ambivalenz‹ ist ein Schlüsselwort in zahlreichen Interpretationen, die sich einzelnen Werken Theodor Fontanes zuwenden oder, mehr biographisch interessiert, die ›Autorperson‹ zu ergründen suchen. Im Fontane-Lexikon wird ›Ambivalenz‹ als ästhetisches Prinzip konstruiert. Aus der Literatur­sprache, den Figurenmerkmalen und der Distanz aller Erzählertypen Fon­tanes entwickelt, wird diese Form von Ambivalenz zugleich mit der ›Per­sönlichkeit‹ des Autors in Verbindung gebracht. Dubslav von Stechlin gilt hierbei als ambivalenter Charakter par excellence, denn er erklärt, an Herrn von Gundermann gerichtet:»Wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, wäre es ebenso richtig.« 1 Mit dieser Haltung werde aber weniger die Ruppiner Vari­ante eines populär-nietzscheanischen Erkenntniszweifels fingiert, vielmehr habe Fontane seine eigene ›Humanität‹ und seine berühmte Haltung des ›sowohl als auch‹ in Szene gesetzt. Dubslav, immer wieder als Alter Ego seines Erfinders gedeutet, verkörpere nicht bloß eine mögliche, sondern Fontanes höchst eigene ›altersweise Toleranz‹, die durch»›Humor‹, ›Selbst­ironie‹[] und die Abneigung gegen ›Dünkel und Überheblichkeit‹« zum Ausdruck gebracht werde. Fontanes Kunstprinzip sei demzufolge eine Re­ferenz an Komplexität, Vielfalt und individuellen Erfahrungsreichtum der realen Lebenswelt. So definiert, bestimmt Ambivalenz einen Wert der Lite­ratur dieses Autors und gilt darüber hinaus als Ausweis seiner»souverä­nen[!] Skepsis«. 2 Fontanes intellektuelle Fähigkeit, Ambivalenzen als Signatur einer spe­zifisch modernen Disposition zu erkennen und literarisch zu reproduzieren, könnte somit die Überzeugungskraft seiner Darstellungen ›zeitgenössi­scher Gegenstände‹ erklären. Dass die erzählten ›bürgerlichen Welten‹ in den Romanen»das beste Bild der Gesellschaft seiner Zeit« geben, wie Erich Auerbach schließlich zähneknirschend zuzugeben bereit war, 3 ließe sich mit Fontanes ästhetischer Übersetzung von konkreten Erfahrungen und